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Raum ohne Raum
Die Realität ist bisweilen ein zänkischer Pinscher, der es auf die Wade der Kunst abgesehen hat. Ein lästiges Tier, fordernd, die eigenen Möglichkeiten weit überschätzend, ich sage es nicht zum ersten Mal. In Scharen strömt das Publikum an Romanschauplätze, um vor Ort das Vorgefundene mit dem Geschriebenen abzugleichen. Es stimmt!, rufen sie voller Begeisterung, die Straße trägt den gleichen Namen, die Anzahl der Pflastersteine pro Quadratmeter stimmt überein und ja, tatsächlich, der Blick von hier geht hinaus auf die Kirche. Es ist exakt die im Roman beschriebene! Sie rechnen, zählen und gleichen ab, sie gehen auf in der Vermessung einer fiktiven Welt. Sie erliegen dem Johannes-Mario-Simmel-Syndrom. So alt es ist, es hält sich. Es ist ein Trauerspiel, getragen von Ignoranz. Ignoranz gegenüber der Kunst und ihren Möglichkeiten, die darauf basieren, dass sich die Fiktion eben nicht in der Verdoppelung der Wirklichkeit erschöpft. Prousts Combray ist (auch) ein reales Städtchen, man kann es in der Normandie besichtigen, es bis in den letzten Winkel erkunden und doch nichts von dem Wesen dieses spezifischen literarischen Ortes erhaschen, der sich aus unterschiedlichen, fiktional angereicherten Bausteinen zusammensetzt. Ein literarischer Kulminationspunkt, könnte man sagen, in dem sich die Bedeutungslinien bündeln, um wieder zerstreut zu werden. Wer ihnen, den Bedeutungsebenen, nachgehen will: Unter dem Stichwort Combray sind sie in der von Luzius Keller herausgegebenen Marcel Proust Enzyklopädie komprimiert aufgeführt. Sehr lesenswert. Noch lesenswerter ist allerdings Proust. Die Recherche lässt sich durchaus bewältigen, ich habe davon gehört. Mein Punkt ist ein anderer. Mich interessieren ästhetische Räume, künstlich geschaffen, changierend, nicht ins Reale (zurück) zu transferieren und doch in ihm verortet. Erzählte Räume, wie Ulrich Schödlbauer sie nennt, deren Charakteristikum ist, dass sie nicht zu präzise beschrieben sein dürfen, Räume, in denen man glaubt, sich auszukennen. Doch Vorsicht: In dem Moment, in dem sich beim Lesen wohlige Sicherheit einstellt, gerät alles in Schlingern. Darauf setzt Dorothee Elmiger in ihrem Roman Schlafgänger. Wie brandaktuell – so wird in diesen Fällen gerne formuliert – Elmiger mit ihrem Thema Flüchtlinge, Vertriebene, Aufbrechende, Asylsuchende, Abgeschobene und Illegale sein würde, konnte sie nicht ahnen, als sie diesen Roman geschrieben hat, der 2014 erschienen ist und der sich aus heutiger Sicht wie eine Prophezeiung liest.
Elmiger hat ihren Roman als ein sich endlos fortsetzendes Gespräch konzipiert. Eine Übersetzerin, ein Journalist, ein Logistiker, ein Student, eine Schriftstellerin, um nur einige zu nennen, tauschen in wechselnden Gesprächskonstellationen Geschichten aus: reale und imaginierte, erlebte und gehörte, historische und aktuelle. Geschichten von Grenzgängern. Diese Dinge geschahen ja überall, ich träumte ja nicht, ich bildete mir nichts ein, ich war für immer wach und sah alles direkt vor mir, sagt der empathisch veranlagte Ich-Erzähler und skizziert mit diesem Satz Elmigers literarisches Programm. Der Clou ihrer Konzeption: Elmiger nimmt nicht eine bestimmte Grenze in den Blick, sondern die Grenzen dieser Welt. Elmiger geht es um das Phänomen der Grenzüberschreitung, um prinzipielle Erfahrungen. Um Menschen in Not, die versuchen, per Schiff oder schwimmend oder zu Fuß bestens bewachte Grenzen zu überwinden. Irgendwann, irgendwo. Für sie hat sie einen ästhetischen Raum geschaffen. Teil dieses Kunstraumes ist der Wald. Geht einer durch den Wald in hohem Tempo, Äste ragen ihm allseits entgegen, kein Weg ist überhaupt vorhanden, der Wald ist europäisch, der Grund ist unsicher, steht zuweilen unter Wasser, der Mann läuft durch den Wald, der kein Ende nimmt, keine Tiere zeigen sich…
Dorothee Elmigers Weg führt in die Abstraktion, ohne die Verankerung im Konkreten gänzlich zu kappen. Wir kennen ihren Wald, wie wir Wälder eben kennen, als heimelige Kirschtorten-Idylle, als Auffangbecken für Waldschrate und Wilderer, als Räume des Verirrens – und eben des Versteckens. Das ist sozusagen das Basiswissen, auf das sie in ihrem mäandernden Satz rekurriert: …die Wipfel rauschen über ihm, jede Wurzel fällt ihm ins Auge, der Mann läuft immer schneller, sinkt ein mit seinen Turnschuhen, kleine Äste streichen über sein Gesicht, Farne um die Knöchel, in diesem Wald riecht es nach Lehm und feuchter Erde, kein Mensch ist da zu sehen.
Der Reiz des neuen, gänzlich künstlichen Raumes entsteht aus der Reibung mit eben diesem kulturell Festgezurrten. Es geht um die Transzendenz dieses Wissens, dieser Erfahrungen, dieser Selbstverständlichkeiten – erst dann öffnet sich ein imaginärer Raum, der eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, in dem neue Lese-Erfahrungen möglich sind. Und zwar durch Irritation. Wer sich auf Elmigers erzählten Wald einlässt, kann ihr, der Irritation, nicht entkommen. Die Voraussetzung ist, nun mit Karl Heinz Bohrers favorisierter Vokabel formuliert: die Illusion.
Bohrer hat sich – nicht erst seit heute – der Reanimation der Kategorie der Illusion verschrieben. In diesem Jahr sind seine Texte kompakt unter dem Titel Ist Kunst Illusion? erschienen. Ja, Kunst ist Illusion, Kunst muss Illusion sein, viele haben’s inzwischen auch verstanden, aber nicht jeder, dass Kunst, so Bohrer, sich durch den Akt der Überschreitung, Verfremdung, Annihilation des Realitätsbezugs auszeichnet. Das unterschreibe ich, darin liegen Verlockung und Chancen. Bohrer rückt das Imaginäre des ästhetischen Objekts in den Fokus, fächert sein Pro-Illusions-Postulat auf, klopft literaturtheoretische Positionen ab, wendet es u.a. auf Musil und Novalis, auf Kleist und Proust an – und auf Baudelaire. Stopp. Hier muss ich einhaken, hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Elmiger. Es scheint, dass sich Elmigers Wald gleich hinter Baudelaires Abgrund erstreckt. Zu kühn gedacht? Oben, unten, überall die Tiefe, der leere Strand, das Schweigen, der Raum, gräßlich und übermächtigend heißt es im Gedicht Le Gouffre. Ein Abgrund tut sich auf, klaffend, erschreckend, furchteinflößend und zugleich faszinierend. Als einen Bewusstseinszustand sui generis interpretiert ihn Bohrer. Es handelt sich um Baudelaires Abgrund, aber auch um unser aller Abgründe, vor allem aber um einen ästhetischen Raum: Man hat vor allem die Abgrundtiefe seiner Vorstellungen nicht einfach als psychologisierendes Abbildungsverfahren eines Seelenzustandes zu lesen, sondern als eine imaginative Konstruktion, deren paradoxes Ziel die Schönheit einer ästhetischen Form ist, schreibt Bohrer. Das gilt auch für Elmigers Wald, durch den Baudelaires Wind der Angst weht, ohne dass sich die Ängste auf ein konkretes Individualschicksal reduzieren lassen. Der Ort, an den ich denke, so Herr Boll, ist ein Wald, darin riecht es nach Lehm und feuchter Erde, kein Mensch ist zu sehen, der Wind weht die Wipfel zur unruhigen Bewegung, kein Weg ist im Grund vorhanden, der Wald breitet sich in jede Richtung weiterhin aus…, heißt es in Elmigers Roman. Dieses Konzept des sich unendlich ausdehnenden Waldes, durch den ein Mann in der Dämmerung irrt, mehr tastend als sehend, ist eine Variation des Abgrunds. Hier wie dort gilt: Realitätsbezüge sind nachweisbar, aber erst wer sie vernachlässigt, ist reif für die Qualität der jenseitigen Dimension, für die Kraft der Texte, ihre schillernde Abgründigkeit.
1998 hat Thomas Huber in der Akademie der Künste Berlin einen Vortrag gehalten. Thomas Huber, der in seiner Kunst gern Bild und Text verbindet und außerdem keine Gelegenheit zum gut gelaunten Seitenhieb auf den Kunstbetrieb auslässt, erzählt, so muss es jetzt sein, vom Wald. Er ginge in den Wald, sagt mein Bruder, sagt Thomas Huber gleich zu Beginn des Vortrags. Und dann folgt die Begründung: Im Wald könne er gut denken, sagt der Bruder, vor allem an die Kunst. Ein wunderbarer Zustand, der in schrillem Kontrast steht zu dem, was er auf Versammlungen jedweder Art erlebe, zum Beispiel mit Kollegen und Ausstellungsmachern und Museumsleuten. Diese Versammlungen sind ihm ein Graus, die Gespräche öde, regelmäßig bekäme er Schluckauf und müsse gähnen und dann das noch: Die Kunst, sagt mein Bruder, fällt mir in Versammlungen mit Kollegen immer hin. Die Kunst wäre ihm noch in jeder Versammlung, die Kunst wäre ihm zu Boden gefallen, sie wäre ihm sozusagen entfallen in den Versammlungen. Da hilft kein Kriechen auf dem Boden, kein Suchen zwischen Stuhl- und anderen Beinen, nur die Flucht: Im Wald habe er noch nie Schluckauf bekommen und im Wald hätte er auch noch nie die Kunst fallen gelassen und im Wald wäre er auch nicht müde.
Falls Sie mich suchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.
- Dorothee
Elmiger:
Schlafgänger
Köln 2014 - Luzius Keller (Hg.):
Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung
Hamburg 2009 - Karl Heinz Bohrer:
Ist Kunst Illusion?
München 2015 - Thomas
Huber:
Mein Bruder im Wald. Vortrag gehalten am 17. Januar 1998 in der Akademie der Künste Berlin anlässlich eines Treffens des Deutschen Künstlerbundes. Der Vortrag wurde von 28 farbigen Diapositiven begleitet.
In: Thomas Huber:
Bilder schlafen, hrsg. von der Galerie Philomene Magers
Köln 1998