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Raum ohne Raum

gesprochen von Gabi Rüth

Die Realität ist bisweilen ein zänkischer Pinscher, der es auf die Wade der Kunst abgesehen hat. Ein lästiges Tier, fordernd, die eigenen Möglichkeiten weit überschätzend, ich sage es nicht zum ersten Mal. In Scharen strömt das Publikum an Romanschauplätze, um vor Ort das Vorgefundene mit dem Geschriebenen abzugleichen. Es stimmt!, rufen sie voller Begeisterung, die Straße trägt den gleichen Namen, die Anzahl der Pflastersteine pro Quadratmeter stimmt überein und ja, tatsächlich, der Blick von hier geht hinaus auf die Kirche. Es ist exakt die im Roman beschriebene! Sie rechnen, zählen und gleichen ab, sie gehen auf in der Vermessung einer fiktiven Welt. Sie erliegen dem Johannes-Mario-Simmel-Syndrom. So alt es ist, es hält sich. Es ist ein Trauerspiel, getragen von Ignoranz. Ignoranz gegenüber der Kunst und ihren Möglichkeiten, die darauf basieren, dass sich die Fiktion eben nicht in der Verdoppelung der Wirklichkeit erschöpft. Prousts Combray ist (auch) ein reales Städtchen, man kann es in der Normandie besichtigen, es bis in den letzten Winkel erkunden und doch nichts von dem Wesen dieses spezifischen literarischen Ortes erhaschen, der sich aus unterschiedlichen, fiktional angereicherten Bausteinen zusammensetzt. Ein literarischer Kulminationspunkt, könnte man sagen, in dem sich die Bedeutungslinien bündeln, um wieder zerstreut zu werden. Wer ihnen, den Bedeutungsebenen, nachgehen will: Unter dem Stichwort Combray sind sie in der von Luzius Keller herausgegebenen Marcel Proust Enzyklopädie komprimiert aufgeführt. Sehr lesenswert. Noch lesenswerter ist allerdings Proust. Die Recherche lässt sich durchaus bewältigen, ich habe davon gehört. Mein Punkt ist ein anderer. Mich interessieren ästhetische Räume, künstlich geschaffen, changierend, nicht ins Reale (zurück) zu transferieren und doch in ihm verortet. Erzählte Räume, wie Ulrich Schödlbauer sie nennt, deren Charakteristikum ist, dass sie nicht zu präzise beschrieben sein dürfen, Räume, in denen man glaubt, sich auszukennen. Doch Vorsicht: In dem Moment, in dem sich beim Lesen wohlige Sicherheit einstellt, gerät alles in Schlingern. Darauf setzt Dorothee Elmiger in ihrem Roman Schlafgänger. Wie brandaktuell – so wird in diesen Fällen gerne formuliert – Elmiger mit ihrem Thema Flüchtlinge, Vertriebene, Aufbrechende, Asylsuchende, Abgeschobene und Illegale sein würde, konnte sie nicht ahnen, als sie diesen Roman geschrieben hat, der 2014 erschienen ist und der sich aus heutiger Sicht wie eine Prophezeiung liest.

Elmiger hat ihren Roman als ein sich endlos fortsetzendes Gespräch konzipiert. Eine Übersetzerin, ein Journalist, ein Logistiker, ein Student, eine Schriftstellerin, um nur einige zu nennen, tauschen in wechselnden Gesprächskonstellationen Geschichten aus: reale und imaginierte, erlebte und gehörte, historische und aktuelle. Geschichten von Grenzgängern. Diese Dinge geschahen ja überall, ich träumte ja nicht, ich bildete mir nichts ein, ich war für immer wach und sah alles direkt vor mir, sagt der empathisch veranlagte Ich-Erzähler und skizziert mit diesem Satz Elmigers literarisches Programm. Der Clou ihrer Konzeption: Elmiger nimmt nicht eine bestimmte Grenze in den Blick, sondern die Grenzen dieser Welt. Elmiger geht es um das Phänomen der Grenzüberschreitung, um prinzipielle Erfahrungen. Um Menschen in Not, die versuchen, per Schiff oder schwimmend oder zu Fuß bestens bewachte Grenzen zu überwinden. Irgendwann, irgendwo. Für sie hat sie einen ästhetischen Raum geschaffen. Teil dieses Kunstraumes ist der Wald. Geht einer durch den Wald in hohem Tempo, Äste ragen ihm allseits entgegen, kein Weg ist überhaupt vorhanden, der Wald ist europäisch, der Grund ist unsicher, steht zuweilen unter Wasser, der Mann läuft durch den Wald, der kein Ende nimmt, keine Tiere zeigen sich…

Dorothee Elmigers Weg führt in die Abstraktion, ohne die Verankerung im Konkreten gänzlich zu kappen. Wir kennen ihren Wald, wie wir Wälder eben kennen, als heimelige Kirschtorten-Idylle, als Auffangbecken für Waldschrate und Wilderer, als Räume des Verirrens – und eben des Versteckens. Das ist sozusagen das Basiswissen, auf das sie in ihrem mäandernden Satz rekurriert: …die Wipfel rauschen über ihm, jede Wurzel fällt ihm ins Auge, der Mann läuft immer schneller, sinkt ein mit seinen Turnschuhen, kleine Äste streichen über sein Gesicht, Farne um die Knöchel, in diesem Wald riecht es nach Lehm und feuchter Erde, kein Mensch ist da zu sehen.

Der Reiz des neuen, gänzlich künstlichen Raumes entsteht aus der Reibung mit eben diesem kulturell Festgezurrten. Es geht um die Transzendenz dieses Wissens, dieser Erfahrungen, dieser Selbstverständlichkeiten – erst dann öffnet sich ein imaginärer Raum, der eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, in dem neue Lese-Erfahrungen möglich sind. Und zwar durch Irritation. Wer sich auf Elmigers erzählten Wald einlässt, kann ihr, der Irritation, nicht entkommen. Die Voraussetzung ist, nun mit Karl Heinz Bohrers favorisierter Vokabel formuliert: die Illusion.

Bohrer hat sich – nicht erst seit heute – der Reanimation der Kategorie der Illusion verschrieben. In diesem Jahr sind seine Texte kompakt unter dem Titel Ist Kunst Illusion? erschienen. Ja, Kunst ist Illusion, Kunst muss Illusion sein, viele haben’s inzwischen auch verstanden, aber nicht jeder, dass Kunst, so Bohrer, sich durch den Akt der Überschreitung, Verfremdung, Annihilation des Realitätsbezugs auszeichnet. Das unterschreibe ich, darin liegen Verlockung und Chancen. Bohrer rückt das Imaginäre des ästhetischen Objekts in den Fokus, fächert sein Pro-Illusions-Postulat auf, klopft literaturtheoretische Positionen ab, wendet es u.a. auf Musil und Novalis, auf Kleist und Proust an – und auf Baudelaire. Stopp. Hier muss ich einhaken, hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Elmiger. Es scheint, dass sich Elmigers Wald gleich hinter Baudelaires Abgrund erstreckt. Zu kühn gedacht? Oben, unten, überall die Tiefe, der leere Strand, das Schweigen, der Raum, gräßlich und übermächtigend heißt es im Gedicht Le Gouffre. Ein Abgrund tut sich auf, klaffend, erschreckend, furchteinflößend und zugleich faszinierend. Als einen Bewusstseinszustand sui generis interpretiert ihn Bohrer. Es handelt sich um Baudelaires Abgrund, aber auch um unser aller Abgründe, vor allem aber um einen ästhetischen Raum: Man hat vor allem die Abgrundtiefe seiner Vorstellungen nicht einfach als psychologisierendes Abbildungsverfahren eines Seelenzustandes zu lesen, sondern als eine imaginative Konstruktion, deren paradoxes Ziel die Schönheit einer ästhetischen Form ist, schreibt Bohrer. Das gilt auch für Elmigers Wald, durch den Baudelaires Wind der Angst weht, ohne dass sich die Ängste auf ein konkretes Individualschicksal reduzieren lassen. Der Ort, an den ich denke, so Herr Boll, ist ein Wald, darin riecht es nach Lehm und feuchter Erde, kein Mensch ist zu sehen, der Wind weht die Wipfel zur unruhigen Bewegung, kein Weg ist im Grund vorhanden, der Wald breitet sich in jede Richtung weiterhin aus…, heißt es in Elmigers Roman. Dieses Konzept des sich unendlich ausdehnenden Waldes, durch den ein Mann in der Dämmerung irrt, mehr tastend als sehend, ist eine Variation des Abgrunds. Hier wie dort gilt: Realitätsbezüge sind nachweisbar, aber erst wer sie vernachlässigt, ist reif für die Qualität der jenseitigen Dimension, für die Kraft der Texte, ihre schillernde Abgründigkeit.

1998 hat Thomas Huber in der Akademie der Künste Berlin einen Vortrag gehalten. Thomas Huber, der in seiner Kunst gern Bild und Text verbindet und außerdem keine Gelegenheit zum gut gelaunten Seitenhieb auf den Kunstbetrieb auslässt, erzählt, so muss es jetzt sein, vom Wald. Er ginge in den Wald, sagt mein Bruder, sagt Thomas Huber gleich zu Beginn des Vortrags. Und dann folgt die Begründung: Im Wald könne er gut denken, sagt der Bruder, vor allem an die Kunst. Ein wunderbarer Zustand, der in schrillem Kontrast steht zu dem, was er auf Versammlungen jedweder Art erlebe, zum Beispiel mit Kollegen und Ausstellungsmachern und Museumsleuten. Diese Versammlungen sind ihm ein Graus, die Gespräche öde, regelmäßig bekäme er Schluckauf und müsse gähnen und dann das noch: Die Kunst, sagt mein Bruder, fällt mir in Versammlungen mit Kollegen immer hin. Die Kunst wäre ihm noch in jeder Versammlung, die Kunst wäre ihm zu Boden gefallen, sie wäre ihm sozusagen entfallen in den Versammlungen. Da hilft kein Kriechen auf dem Boden, kein Suchen zwischen Stuhl- und anderen Beinen, nur die Flucht: Im Wald habe er noch nie Schluckauf bekommen und im Wald hätte er auch noch nie die Kunst fallen gelassen und im Wald wäre er auch nicht müde.

Falls Sie mich suchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.

  • Dorothee Elmiger:
    Schlafgänger
    Köln 2014
  • Luzius Keller (Hg.):
    Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung
    Hamburg 2009
  • Karl Heinz Bohrer:
    Ist Kunst Illusion?
    München 2015
  • Thomas Huber:
    Mein Bruder im Wald. Vortrag gehalten am 17. Januar 1998 in der Akademie der Künste Berlin anlässlich eines Treffens des Deutschen Künstlerbundes. Der Vortrag wurde von 28 farbigen Diapositiven begleitet.
    In: Thomas Huber:
    Bilder schlafen, hrsg. von der Galerie Philomene Magers
    Köln 1998

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Das vierte Auge

gesprochen von Gabi Rüth

Jean Tardieu klagt. Das liest sich höchst amüsant. Wie träge das Wort ist!, hebt er an: Ich brauche Wörter, die sprühen, andere, die brennen, andere, die kühlen. Verständlich, denn Tardieu benötigt dringend eine sprachliche Sonderration. Er will Bilder beschreiben, Bilder von Manet, Cézanne, Klee, Max Ernst. Da kann er nicht einfach auf Wörter zurückgreifen, die auf der Straße liegen, abgenutzt und ausgelaugt. Nein, mit dem Griff in solch abgegriffenes Wörterreservoir kann er den Bildern nicht adäquat begegnen. Stattdessen, schreibt er (zu lesen in dem Band Mein imaginäres Museum aus dem Jahr 1965, in dem einige der Texte Tardieus vereint sind): Die Worte, die mir vorschweben, gibt es nicht. Ich muß Mischungen bekannter Gewürze im Munde zerkauen, um vielleicht das Aroma zu finden, das ich suche. Ich unterschachte! Ich multiklamiere! Ich versehfache! Ich überwittere! Ich vertastfache! Ich klittere! Und das alles jeweils mit Ausrufezeichen versehen, was durchaus auf einen seelischen Notstand schließen lässt. Der Mann stand unter Druck. Sollte ich denn mit Worten malen können?, fragt der Dichter. Und wenn ja, mit welchen? Schließlich müssen sie vor allem das Unsägliche, das dahinter ist! (so drückt er es aus, abermals mit Ausrufezeichen) umfassen. Das Ergebnis seines Ringens sind – wie soll ich es nennen? – Sprachmäander. Tardieu umkreist, umreißt seine Gegenstände, dringt in sie, schreibt, was er sieht, fühlt – gleichwohl verrät er nie ihre Geheimnisse. Auch, wenn er sie ahnt. Ein Zitat als Beispiel. Unter dem Titel Plissierte Wüste schreibt Tardieu zu Max Ernst: Diese ganze, hübsche Welt taucht in den Lücken auf und zeigt lauthals lachend auf mich, der ich, in kalten Schweiß gebadet, in der klarsten Nacht erwache. Aber Hand in Hand mit der Drohung und der Gefahr domptiere ich das Unbekannte, das überall ist. Der Dompteur hält sich so weit zurück, dass Raum bleibt für die Imaginären Museen im Kopf der Lesenden. Auf diesen Raum, pointiert gesagt: auf die Leere, komme ich noch zu sprechen. Werden das Verhältnis und die Wertigkeit von Texten vs. Bildern diskutiert, ist die Leere Dreh- und Angelpunkt. Ein schräges Bild, ich weiß. Doch passend zu der paradoxen Frage, auf die sich die Auseinandersetzung zuspitzen lässt: Wer kann die Leere besser herstellen? Ein Maler oder ein Dichter?

Bleiben wir erst einmal bei dem Offensichtlichen. Zum Beispiel bei der Chronologie. Sie ist eindeutig: Zuerst gab es die Bilder, dann Jean Tardieus Texte. In Bezug auf Jean Paul verhält es sich umgekehrt. Am Anfang war die Prosa. Gesättigt mit bildhaften Szenerien, voll surrealer Anklänge, theatralisch, phantastisch, visionär, satirisch, zentrale Themen und Metaphern immer aufs Neue auffächernd. Sie wissen schon, wenn nicht, dann gibt es nur eines: Lesen Sie Jean Paul. In der Einleitung zum Band Jean Paul und die Bilder schreibt Helmut Pfotenhauer: Fest steht, daß kaum ein anderer Autor deutscher Sprache als Literat so bilderselig war wie er. Diese Bilderseligkeit, die vielfältigen Himmelsfahrten und -flüge, all’ die Aufstiege und Ausblicke, waren und sind eine Fundgrube für bildende Künstler, die sich – ungeachtet der Jean Paulschen Skepsis gegenüber dem Transfer von der Sprach- in die Bildwelt – der Texte annahmen. Um sie? Was eigentlich? Zu illustrieren? Um ihnen einen eigenen Bildkosmos entgegenzusetzen? Um der Literaturwissenschaft Futter für das alte, neue Thema Text vs. Bild zu liefern? Von allem etwas und in der Regel gut gemischt, wie der Band Jean Paul und die Bilder anschaulich beweist. Anschaulich? Das sagt sich schnell, ist aber nicht ganz präzise, denn es wird unterstellt, dass die Lesenden den abermaligen Transfer des Textes in Bilder leisten. Eine Art Palimpsest: Auf Grundlage von Prosa entstehen Bilder, die in Diskurse transponiert werden und wiederum Bilder erzeugen. Auch die Prosa zu Beginn der Kette basiert auf Wahrgenommenem – also u.a. auch auf Visuellem. Darauf rekurriert Monika Schmitz-Emans: »Bilder« agieren und regieren im »Inneren« des denkenden und sprechenden Subjekts. Sie binden dieses an eine Bilderwelt, die durch Sprach-Bilder aufgerufen wird. Ein Entkommen in die Abstraktion gibt es nicht. Das finde ich durchaus begrüßenswert. Da haben wir sie also wieder: die Imaginären Museen Jean Tardieus. Manchmal liefert sogar die Sekundärliteratur die Vorlage. Allerdings nicht immer.

Bleibt festzuhalten: Nichts ist mit dem anderen identisch. Der Ausschnitt, den ein Hirn aufzeichnet nicht mit dem Bild, das die Welt liefert, das Sprachbild nicht mit der Illustration. Ulrich Schödlbauer setzt die Spirale in seinen Ausführungen zu der Paarung Jean Paul, Text/Paul Mersmann, Bild fort: Was Jean Pauls Erzähler, was er selbst sieht und was er begreift, was der Betrachter sieht und begreift und – nicht zu vergessen – was der Zeichner sich dabei gedacht haben mag, lässt sich von keiner Instanz zur Deckung bringen. Gemeinsam steht es für einen umfassenden, aber nicht leicht fasslichen, vielleicht unfasslich bleibenden Sachverhalt.

Dieses ›Fass‹ bleibt gewissermaßen auf immer verschlossen, obwohl in ihm ruht, worum es eigentlich geht. Worum geht es? Bei Jean Paul – dem Witz und der Überdrehtheit, den Albernheiten und Skurrilitäten zum Trotz: um Spiritualität. Ja, um die christliche Religion als Fundament. Gern wird an solcher Stelle auf Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, daß kein Gott sei verwiesen. Die Schlusspassage bietet sich geradezu an: Der Erzähler erwacht aus einem Albtraum. Christus hatte die Existenz Gottes geleugnet – alles wurde eng, düster und bang und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern... Jean Paul setzt drei Punkte, ehe er den tief erschütterten Erzähler aufwachen und frohlocken lässt. Alles wird gut, nein: alles ist gut. Dieses Hereinholen der Spiritualität in die Kunst gelingt nach Meinung Jean Pauls der Poesie besser als der bildenden Kunst. Warum? Weil sie, die Poesie, über die größere Gabe verfügt, Leerstellen herzustellen, Freiräume zu schaffen, in denen sich das geistige Auge umschauen kann und darf. Und muss. Das geistige Auge ist das dritte Auge. Es erkennt blind den rechten Weg Richtung Erlösung – darauf pochen Esoteriker unterschiedlichster Couleur und der Kleine Prinz.

Ohne Chance auf Erlösung agieren die Figuren in dem Roman Die französische Kunst des Krieges von Alexis Jenni. Zwei Männer begegnen sich. Zwei Leben prallen aufeinander. Das Leben des Erzählers: eher blass. Das Leben des Mannes, den er kennenlernt, ist ebenso prall wie düster: Victorien Salagnon, ehemaliges Résistance-Mitglied, später Kämpfer in den französischen Kolonialgebieten, in Indochina und Algerien – und ein begnadeter Tuschezeichner. Seine Memoiren lesen sich dagegen wie ein Schulaufsatz, also nimmt der Erzähler sich auf Bitte Salagnons dieses Textes an – im Gegenzug lehrt Salagnon ihn das Tuschezeichnen. Voilà: Text versus Bild, Sprache versus Zeichnung, hier haben wir eine Variante: Deshalb bin ich bei Victorien Salagnon, damit er mir beibringt, wie man einen Pinsel hält, und zwar besser als ich einen Füller halten kann, um endlich etwas zeigen zu können. Die Aussage impliziert, dass Worte offenbar nicht reichen, dieses Etwas zu zeigen. Oder doch? Immerhin schreibt Alexis Jenni auf den gut 760 Seiten des mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans gegen diese These an. Dieses Etwas ist der Krieg. Besser: die Kriege. Die vergangenen und die heutigen, die in den Kolonien wie in den Banlieues, die Bandenkriege auf den Straßen und die Ehekriege in den Häusern. Es sind die Kriege, die Salagnons Leben beherrscht, die die Gesellschaft – bei Jenni ist es die französische, aber es gilt nicht nur für sie – auf allen Ebenen infiltriert, unterminiert haben. Wie lässt sich das ausdrücken? Mit Wörtern, die ihrerseits infiziert sind? Das hat in der Zeit begonnen, als Französisch die Sprache des Kolonialreichs, die Sprache des Mittelmeerraums, die Sprache der Wüsten und der Urwälder, in der Zeit, als Französisch von einem Ende der Welt bis ans andere die internationale Sprache des Verhörs war. Wie erzählen in solch einer Sprache? Andererseits – so banal es klingt – gibt es nur die eine. Nun hat dieser zum Erzählen verurteilte Erzähler im Zeichenkurs von Salagnon gelernt: Die wichtigsten Striche beim Zeichnen sind jene, die man nicht ausführt. Sie hinterlassen eine Leere, und nur die Leere lässt den nötigen Platz. Das hätte Jean Paul doch gefallen müssen. Oder auch nicht, denn dieser Platz ist eben nicht der Spiritualität geweiht, der Weisheit, sondern dem Gegenteil: der Zerstörung. Dieses Weiß, das übrigbleibt, birgt auch bei Jenni das Unerhörte, Ungeheuerliche, Unaussprechliche. Es entspricht auch bei ihm dem Schleier des Timanthes, der das von Trauer gezeichnete Gesicht Agamemnons verhüllt. Der Schmerz des Vaters um den Opfertod der Tochter könnte nicht deutlicher zu sehen sein, weil er nicht zu sehen ist, sondern von den Betrachtern imaginiert wird. Das wiegt schwerer als jedes Abbild. (Ralf Konersmann hat es eindringlich beschrieben). Die Imagination ist auch bei Alexis Jenni dem Elementaren vorbehalten: der Gewalt. Jennis Roman ist durch und durch irdisch. Er ist in den Höllen des Diesseits verhaftet. Kein Trost, nirgendwo. Bei der Darstellung greift er zu gleichen Mitteln wie Jean Paul. Wenn Alexis Jenni seinen Erzähler vom finalen Stadium seiner Ehe berichten lässt, wenn Ehefrust, Überdruss und Alltagsekel in ein letztes freitägliches Essen mit Freunden fließen, wenn er dann zu Tisch bittet: Kommt, wir können essen, um ihnen und seiner Gattin in einem Nest aus Kohlblättern Kaldaunen zu servieren, dazu rot leuchtende, angebratene Hahnenkämme – glühend heiß und angeschwollen – und als Krönung Hammelköpfe, unversehrt gelassen, auf fein geschnittenen Salatblättern ruhend, mit hervortretenden Augen und heraushängender Zunge, dann muss kein weiteres Wort über den Zustand der Ehe gesagt werden. Die heiße Blutwurst, aus der ein Strahl aus schwarzem Blut spritzt, wird zum Symbol und zugleich zur Metapher. Die Botschaft könnte direkter nicht sein, weil sie indirekt daherkommt und Platz lässt für individuelle Ergänzungen: In diesem Haus finden blutige Kämpfe statt! Das kennt man doch. Wie schön, wenn es die anderen trifft. Wie herrlich tief sind die Abgründe. Wie hell erleuchtet sind sie durch die bildhafte Weise des Sprechens. Stehen der Schleier des Timanthes und in Analogie dazu die Metaphern Jennis auf den ersten Blick für Diskretion, so entlarvt dieses Beispiel das Gegenteil: Keine präzise Zustandsbeschreibung des Ehekriegs könnte indiskreter sein. Das imaginierte Bild überbietet das reale. Das dritte Auge ist bei Jenni außer Kraft gesetzt. Ein viertes ist an seine Stelle getreten. Ebenso wirkmächtig. Wenn sich an dieser Stelle ein Kalauer nicht verbieten würde, würde ich sagen: Mit dem Vierten sieht man besser. Aber das wäre unseriös.

  • Monika Schmitz-Emans und Wolfram Benda (Hg.):
    Jean Paul und die Bilder. Bildkünstlerische Auseinandersetzung mit seinem Werk: 1783 – 2013
    Würzburg 2013
  • Alexis Jenni:
    Die französische Kunst des Krieges
    Übersetzt von Uli Wittmann
    München 2012
  • Jean Tardieu:
    Mein imaginäres Museum
    Übersetzt von Gerhard M. Neumann und Werner Spies
    Frankfurt a.M. 1979
  • Ralf Konersmann:
    Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik
    Frankfurt a.M. 1994

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Schönes Scheitern

gesprochen von Gabi Rüth

Sie hätten sich gut verstanden: Thomas Buddenbrook und Johann Alberts. Ich sehe die beiden überaus korrekt gekleideten Herren – der eine geht auf die fünfzig zu, der andere ist über siebzig – im Lübecker Privat-Comptoir des Konsuls Buddenbrook sitzen oder im Büro des Chefs der Privatbank Alberts in Berlin. Ich sehe, wie sie die Sekretärin um einen Kaffee bitten und ihr nachrufen: Keine weiteren Unterbrechungen. Wir wollen ungestört reden. Was heißt reden? Ich höre, wie sie einander ihr Leid klagen. Über ihr traditionsreiches Handels- bzw. Bankhaus parlieren. Über Kaufmannsehre und Verantwortung für die Geschäfte und die Mitarbeiter und die Gesellschaft und überhaupt: Was zählt schon der einzelne? Der Konsul weist auf die Tafel, ein Geburtstagsgeschenk, die über seinem Schreibtisch hängt: Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können. Johann Alberts hört nicht den Hauch von Spott in Buddenbrooks Stimme, er nickt und erzählt seinerseits von der 150-jährigen Geschichte seiner Bank, erzählt von diesem altehrwürdigen Bankhaus – so würde es noch heute in der Presse apostrophiert –, das er seit Anfang der 70er Jahre geführt und durch die Höhen und Tiefen der Zeiten manövriert habe. Der Konsul wisse schon. Er sei schließlich Hanseat. Ich höre, wie die Reden freimütiger werden. Thomas Buddenbrook beginnt von seinem Bruder Christian zu erzählen, von den Eskapaden dieses Possenreißers, der sich erdreistet zu behaupten, alle Kaufleute seien Schwindler, der seine Gier nach Gefühlswallungen lieber im Theater stille als bei der Arbeit. Johann Alberts unterbricht ihn: Christian, nun gut, ein verwöhntes verzogenes Bürschlein, wehleidig, kränklich, aber doch harmlos im Vergleich zu seinem Ziehsohn Bernhard Milbrandt, der hinter seinem, also Johanns, Rücken die Bankgeschäfte übernommen hat – eine feindliche Übernahme von innen gewissermaßen. Vertraut habe er ihm, gefördert habe er ihn. Nun die Katastrophe: 40 Millionen Euro habe Bernhard unterschlagen.

Kurze Zeit nach diesem Gespräch muss sich Thomas Buddenbrook einer martialischen Zahnoperation unterziehen, ohne Narkose. Es ist das Jahr 1875. Wenig später stirbt er. An einem Zahne. Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Es war nicht zu fassen. Und Johann Alberts? Ihn trifft gleich der Schlag. 135 Jahre später, im Roman Gibraltar von Sascha Reh, der in diesem Jahr erschienen ist.

Zwei symbolische Tode. Zwei Protagonisten, mit denen jeweils eine Ära begraben wird: eine gewisse Haltung dem Leben gegenüber. Gradlinigkeit und Berechenbarkeit. Loyalität – im Familiären wie im Gesellschaftlichen. Und erst recht im geschäftlichen Umfeld. Die Gründe für den jeweiligen Niedergang sind unterschiedlich. Die ästhetischen Konzepte der Romane sind es auch, die Motive der Autoren erst recht – aber der Genuss an der Inszenierung des Scheiterns ist vergleichbar. Den Verfall einer Familie, die an sich selbst und ihrer erstarrten Bürgerlichkeit erkrankt ist, breitet Thomas Mann mit Süffisanz aus. Sascha Reh läuft stilistisch zur Hochform auf, wenn er seinen Protagonisten durch Spanien hetzt, Richtung Gibraltar, ins Steuerparadies. Die Gläubiger sitzen Bernhard im Nacken, die Fahndung läuft, doch dieser Mann, der nicht nur Schulden gemacht hat, sondern schuldig geworden ist (in Klammern gesagt: der Autor Sascha Reh ist auch als Familientherapeut tätig, diese Vorbelastung kommt der Figurenrede durchaus zu Gute), dieser Mann ist ein Besessener im Angesicht des Endes: Er musste duschen. Sich rasieren. Eine Kaskade von Aufgaben brach über ihm zusammen. Er musste den Kontostand überprüfen. Er musste regelmäßig atmen. Sobald er das Geld auf das neue Konto transferiert hatte, würde es zwei, maximal drei Tage dauern, bis er darüber verfügen konnte. 10 000 Euro täglich am Geldautomaten, weltweit. Bernhard, der Tänzer auf der Titanic, wird gefasst. Ein Häufchen Elend, einkassiert von der Guardia Civil am Rande einer staubigen Straße. Er trägt noch nicht einmal einen Colt. Ich höre die Lesergemeinde raunen: Geschieht ihm recht.

Auf diesen Punkt will ich hinaus: auf das bitter-süße Vergnügen am Untergang, das in dieser Buchsaison gefeiert wird – vornehmlich in den Romanen, deren Sujet die Wirtschaftswelt ist. Deren Protagonisten in Unternehmen, Banken oder an der Börse agieren. Der Stil ist unterschiedlich, der Ton ist jeweils ein anderer, doch es ist eine ähnliche Hingabe zu verzeichnen, mit der die Autorinnen und Autoren den stufenweisen Abstieg ihrer Protagonisten entfalten. Dieses Zelebrieren des Untergangs wirkt wie ein produktions- und wirkungsästhetischer Kulminationspunkt. Es entsteht ein Moment der Nähe zwischen Autoren und Lesern. Diese Konzeptionen gründen nur auf den ersten Blick in der willfährigen Befriedigung voyeuristischen Begehrens. Darin erschöpfen sie sich nicht. Die Literatur übernimmt – mal wieder – eine Stellvertreterfunktion. Wenn wir de facto kaum etwas gegen die Euro-, Finanz- und Wirtschaftskrisen dieser Jahre ausrichten können, wenn wir zu Zuschauern degradiert werden, lassen wir doch die Fiktion sprechen. Zwischen den Buchdeckeln, so die zornigen Botschaften, steht geschrieben, dass die Tage der Raubtier-Kapitalisten gezählt sind. Wenn es kein Risiko gäbe, würde ich Opel Corsa fahren, prahlt Bernhard noch kurze Zeit, bevor es mit ihm endgültig bergab geht. So soll es sein. So lautet die Transfer-Anordnung: Die Fiktion gibt sie vor, die Realität möge nachziehen. Das Ohnmachtsgefühl angesichts dessen, was auf den sogenannten globalisierten Märkten geschieht oder auch nicht geschieht, durchbrechen die Schriftsteller durch ihr Schreiben – und lassen die Lesenden partizipieren. Nun fehlen noch Beispiele aus den aktuellen Konzepten des Scheiterns.

Tilman Rammstedts Held in Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters ist, das liegt auf der Hand, ein Bankberater. Ihn quält der Job. Ein gewisses Fremdheitsgefühl macht sich in ihm breit. Er entwickelt eine größer werdende Distanz zu den Produkten, die er verkaufen soll. Er sagt Sätze wie: Wenn die Wirtschaft schrumpft, wachsen die Schulden. Wenn die Haare ausfallen, wächst die Glatze. Wenn die Handys kleiner werden, dann wächst halt die Fläche um die Handys herum.Auch mein Geld sei also nicht direkt weg, ich hätte dafür etwas anderes bekommen.Nun müssen wir nur noch herausfinden, was das ist, sagte er. Als auch kein Flüstern mehr hilft, um sich und die nervösen Märkte und die Kunden zu beruhigen, fasst der Bankberater einen Entschluss: Er überfällt die Bank, in der er arbeitet. Nun kann nur noch Bruce Willis helfen, den Tilman Rammstedt, der im Roman als Tilman Rammstedt auftritt, schließlich ist er literarisch interessiert an den Nahtstellen zwischen Fiktion und Realität, bereits kontaktiert hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Christiane Neudecker hat sich in ihrem Roman Boxenstopp für einen spektakulären Schauplatz entschieden: das Autodrom in Estoril. Auf der Rennstrecke der Formel 1 findet das größte Auto-Event des Jahres statt: die Präsentation des P 7. Dieses Auto, den P7, inszeniert Neudecker als Fetisch. Das Begehren der potentiellen Käufer ist auf ihn ausgerichtet. Sie sind nicht Teil einer Verkaufsshow, sondern einer kultischen Handlung, die einigen wenigen Auserwählten vorbehalten ist. Eine geschlossene Gesellschaft. In sie implantiert Christiane Neudecker ihre Protagonistin: die vom Konzern verpflichtete Moderatorin. Sie steigt steil auf, um tief zu fallen: Meine Welt fing an zu kippen. Ich befand mich in einem fremden Königreich und er war dort der Regent. ER ist der Manager des Autokonzerns. Der uneingeschränkte Gebieter. Als die Moderatorin seinen Avancen widersteht, als sie sich ihm verweigert, setzt er eine Intrige in Gang. Am Ende verliert sie ihren Job, ihren Freund, ihr komplettes altes Leben. Doch in diesem Scheitern, so suggeriert der Roman, liegt zugleich ein möglicher Neuanfang. Eine frohe Botschaft gewissermaßen: Scheitern als Chance. Das klingt wie der Titel eines Seminars für Insolvente. Das ist löblich, das ist pädagogisch wertvoll. Doch aus ästhetischer Sicht wäre es überzeugender, von ihrem absoluten Untergang zu lesen. Wie gesagt: diese Szenarien sind Garant für einen wohligen Schauer auf dem Rücken der Lesenden. Man kann aber auch – zur Befriedigung anderer Bedürfnisse – zu Fernando Pessoas anarchistischem Bankier aus dem Jahr 1922 greifen. In einer schwindelerregenden Argumentationskette erläutert er, dass er als Anarchist den übergangslosen Wechsel von der bürgerlichen zur freien Gesellschaft anstrebe, dass das Geld und das Streben nach Geld diesen Prozess allerdings behindere, dass er deshalb gegen die Tyrannei des Geldes kämpfe, in dem er sich buchstäblich in den Rachen des Löwen vorwage: Die einzige Methode war, es zu erwerben, es in so großer Menge zu erwerben, daß sein Einfluß nicht mehr spürbar werden konnte. Raffgier als gesellschaftsverändernde Kraft. Eine Logik, die mir gefällt. Ich gebe zu, wenn auch ungern: Ich bin ein gemeiner Mensch. Jedenfalls als Leserin.

  • Thomas Mann: Buddenbrooks
    Frankfurt a. M. 1989
  • Sascha Reh: Gibraltar
    Frankfurt a. M. 2013
  • Tilman Rammstedt: Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
    Köln 2012
  • Christiane Neudecker: Boxenstopp
    München 2013
  • Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Ein ganz ausgefallenes Abendessen
    Übersetzt von Reinhold Werner
    Berlin 2006

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Bann des Banalen

gesprochen von Gabi Rüth

In meiner letzten Kolumne habe ich erzählt, wie die Beschreibung eines Kindergeburtstags mich unfreiwillig in einen Zustand der Duldungsstarre versetzt hat. Verantwortlich dafür war der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård und sein exzessiv betriebenes ästhetisches Programm der Zeitdehnung. Kurz gefasst: Erlebnis- gleich Lesezeit. Nun sind es mit Schnittlauchschnipseln garnierte Bratkartoffeln, die mich beschäftigen. Abermals bin ich in den Niederungen des Alltäglichen gelandet. Die Fangarme des Durchschnittlichen halten mich umschlossen. Wie konnte das zum zweiten Mal geschehen?

Äußerlich betrachtet durch die Lektüre von Gerhard Henschels Abenteuerroman. Er ist Teil vier eines – hier besteht eine Parallele zu Knausgård – autobiografischen Romanprojekts. Wobei Henschel sich (wenn auch nur notdürftig und sein Pseudonym in jedem Interview freiwillig preisgebend) hinter dem Decknamen Martin Schlosser versteckt, um zu erzählen, wie er in den 60er und 70er Jahren in der Provinz – zunächst in Vallandar bei Koblenz, anschließend in Meppen im Emsland –aufgewachsen ist. Im Abenteuerroman feiert Martin seine Volljährigkeit und hat die Liebe entdeckt. Nun will er mehr. Vor allem Sex. Und zwar mit Heike. Doch Heike will reden, Beziehungsgespräche führen, wie es Anfang der 80er Jahre hieß. In den folgenden Jahren wird Reagan Präsident, Helmut Kohl Kanzler, das Buch Die offene Ehe erscheint – Heike ist begeistert, Martin weniger –, auf den Papst wird ein Attentat verübt, im Fernsehen läuft Dieter Hildebrandts Scheibenwischer. Martin besteht das Abitur, testet den ein oder anderen Joint, liest Kafka und Tolstoi, pilgert zur Demo gegen das Atomkraftwerk Brokdorf, fragt sich: Zivildienst ja oder nein, SPD rein oder raus? Dazwischen ständig Diskussionen mit Heike, die sich irgendwie nicht so gut fühlt. Wie ein Running Gag zieht dieser private Kampf sich durch den gesamten Abenteuerroman, der stilistisch an die Vorgänger anknüpft: schnelle Themenwechsel, harte Sprünge vom Privaten ins Öffentliche und wieder zurück. Ganz in der Manier Walter Kempowskis, der zu Henschels Säulenheiligen zählt. Wobei Henschel eine Maxime bis zur Schmerzgrenze ausreizt: Er feiert das Alltägliche. Er zelebriert die Normalität – allerdings ohne den Weihrauchkessel zu schwingen: Mama näht Wiebke ein Kleid für den Abschlußball. Onkel Rudi inspiziert Papas Komposthäcksler, zu Silvester gibt’s Fondue. What shall’s! Samstagabend prangt der Käse-Igel auf dem Tisch (oder war das ein Jahrzehnt und ein Roman zuvor?) Der Eiersalat ist jedenfalls in den 80ern verortet – und eben die Bratkartoffeln, garniert mit Schnittlauchschnipseln, über deren Länge sich der Vater mokiert.

Das sind die Ingredienzien, aus denen Gerhard Henschel – ein der Satire zugetaner Mensch – ein Romankonvolut entwickelt, das trotz des kabarettistischen Potentials seiner Einzelteile weder den Helden noch seine Zeit der Häme preisgibt. Der Roman, besser die Collage, ist Zeitdokument. Bei meiner Lektüre, getrieben von der Frage, wann und wie das jeweilige Jahrzehnt am prägnantesten dokumentiert wird, muss ich widerwillig eingestehen: Es sind nicht zuletzt die häuslichen Dinge des Lebens, die den größten Wiedererkennungswert haben (schließlich kenne ich sie, die 70er, die 80er Jahre). Sie scheinen sogar – zumindest ein Stück weit – repräsentativ zu sein für eine jeweilige Zeitspanne. Jedenfalls schnappt die Falle zu (und Henschel, der Fuchs, hat‘s gewusst oder geahnt oder zumindest darauf spekuliert): Ich stehe im Bann des Banalen.

Dieser ernüchternden Erkenntnis folgt der Trost beim Blick ins etymologische Wörterbuch. Selten war ich Herrn Kluge für einen Eintrag dankbarer: Das Adjektiv banal kommt aus dem Französischen. Es führt zurück auf das altfranzösische bzw. letztlich das altniederfränkische ban. Und nun kommt’s: Ban meint Gerichtsbezirk und zugleich Bann. Die lexikalische Erläuterung mehrt meine Beruhigung: Das Adjektiv wird zunächst zur Bezeichnung von Dingen verwendet, die den Personen, die in einem bestimmten Bezirk leben, gemeinsam gehören. Aus gemeinsam, gemeinnützig wird dann normal mit der Bedeutungsverschlechterung hin zu nichtssagend. Kein Grund also, länger mit meiner Empfindung, dem Bann des Banalen zu erliegen, zu hadern. Etwas in mir erinnert sich der heimeligen Zeit, als wir angebratene Fleischklümpchen aus triefendem Fett fischten als säße unsere Sippe vereint am Lagerfeuer, über dem der gemeinschaftlich genutzte Kochtopf wippt. Das Banale steht also – nicht nur lautmalerisch – dem Basalen näher als gedacht. Was hat Jan Assmann in Religion und kulturelles Gedächtnis zum Stichwort kulturelle Texte gesagt? Säkulare Texte treten in den Rang nicht nur von literarischen Klassikern, die das literarische Schaffen späterer Epochen bestimmen, sondern geradezu von kulturellen Texten, die das Selbst- und Weltbild der Gruppe und die Lebensführung des Einzelnen prägen, so wie einstmals die Mythen und die Werke der Weisheitsliteratur. Nun lässt sich der Abenteuerroman kaum in die Kategorie der Weisheitsliteratur heben, auch handelt es sich wahrlich nicht um einen kanonischen Text, aber er setzt – immerhin – plakativ in Szene, worin ein Generationen-Feeling (nicht nur, aber eben auch) wurzelt. In der gemeinsam abgelehnten Musik – der gesamte Roy-Black-Dreck – oder der gemeinsam gefeierten Musik, zu der natürlich Bob Dylan zählt. In der Begeisterung für Lichter der Großstadt mit Charlie Chaplin. In einem Ausdruck wie beömmeln, einer Wortschöpfung der 70er Jahre, früh verstorben in den 80ern wie auch die Wendung Haschu Haschisch inne Taschen, haschu immer waschu naschen – beides Belege für zeitspezifisches Sprechen und damit den sozialen Aspekt einer sich stets wandelnden Sprache. Schließlich haben nicht nur ein paar Pubertierende so gesprochen, sondern ein kompletter, sich auf Fêten im evangelischen oder katholischen Jugendheim treffender Jahrgang. Kurzum: Die Suche nach Bedingungen, die ein Gefühl der Kohärenz garantieren, führt aufs Terrain des Banalen. Der kulturelle Text, an dessen Zustandekommen alle beteiligt sind, unterscheidet sich von den heiligen Texten einer Epoche durch seine gnadenlose Eingängigkeit. Selbst die seinerzeit Ausgeschlossenen sind in der Rückschau dabei. Die Literatur, die auf dieses Feld rekurriert, verfügt über einen Kuschelfaktor, zahlt jedoch zugleich einen hohen Preis: Sie ist bar jeder Irritation, jeden Befremdens. Man kann sich in ihr gemütlich einrichten – jedenfalls für ein nostalgisches Stündchen. In diesem Sinn lassen sich die Bratkartoffeln als identitätsfördernde Kraftspeise interpretieren. Gerade weil die Schnittlauchschnipsel zu lang sind.

  • Gerhard Henschel: Abenteuerroman
    Hamburg 2012
  • Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis München 2004

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Eins zu eins

gesprochen von Gabi Rüth

Umberto Eco hat einmal zusammengerechnet, wie viel Zeit er mit dem Schreiben seiner Bücher, Aufsätze, Artikel, Essays und Vorlesungen verbringt, mit dem Redigieren der eigenen wie der übersetzten wie der von ihm herausgegebenen Texte: Unterm Strich bleiben, so schreibt er, eine Stunde und 49,5 Minuten pro Tag für Sex, Austausch mit Freunden und Familienangehörigen, Begräbnisse, Arztbesuche, Einkäufe, Sport und Spektakel. Dieses Schicksal bleibt Karl Ove Knausgård erspart. Der norwegische Schriftsteller hat die Reißleine gezogen. Nachdem am 17. November 2011 der letzte der sechs Bände seines autobiografischen Romankonvoluts erschienen ist, hat Knausgård erklärt, dass sein Leben als Schriftsteller nun vorbei sei. Punktum. Das ist eine durchaus interessante Aussage – in zweifacher Hinsicht. Der Mann beendet seine Karriere auf ihrem Höhepunkt. Das hat man nicht alle Tage. Auch sein letzter Roman ist vom Applaus der Rezensenten begleitet worden: Knausgård wird denselben Rang wie Henrik Ibsen und Knut Hamsun einnehmen, jubelt einer, Knausgårds Leiden werden literarisch und geistig ebenso bedeutungsvoll für Menschen der 2010er Jahre werden, wie die des jungen Werther in den 1770er es waren, ein anderer. Das klingt nach einem Dolchstoß für Knausgårds Kollegen und Kolleginnen. Was soll danach noch kommen? Wo sich positionieren, wenn das Ultimative bereits geschrieben ist? Nur die Lyriker können frohlocken, sie sind ausnahmsweise auf der sicheren Seite. Es sei ihnen gegönnt, diese Stärkung ihres Genres ist wahrlich nicht die Regel. Zudem ist Knausgårds Rückzug als aktiv Schreibender bemerkenswert, weil dieser 43-Jährige – nicht zuletzt davon künden seine Romane – getrieben war von dem Drang, schreiben zu wollen. Schreiben zu müssen. Den Kampf, im Alltag äußeren, aber auch inneren Raum fürs Schreiben freizuschaufeln, thematisiert er wiederholt. Die Passagen lesen sich, als suche ein Kranker die rettende Medizin. Die heißt Literatur – fremde, aber vor allem die eigene. Und nun soll Schluss sein. Das heißt: Knausgård stilisiert sich zum Schöpfer, der sich erschöpft zurücklehnt. Er reiht sich nicht in die Typologie der Schriftsteller, die über eine nie versiegende Kraft- und Inspirations-Quelle verfügen, vielmehr ist das Knausgårdsche Projekt des Schreibens endlich. Und somit irdisch. Aber dennoch zufriedenstellend. Während Uwe Johnson lange Zeit wollte, aber nicht konnte, die spanische Schriftstellerin Etxebarría kann, aber nicht will, weil von ihren Werken mehr illegale Kopien im Internet runtergeladen als reguläre verkauft würden und sie nicht den Rest des Lebens von Luft leben könne, wie sie bei facebook erklärt, während sie die Produktion einstellt, liegt bei Knausgård der Fall anders. Kühn formuliert: Er kann nicht mehr, will aber auch nicht mehr.

Ich habe es schon gesagt, das Hauptwerk umfasst sechs Bände mit Tausenden von Seiten. Im Original heißt das Ganze Min Kamp. Das hört sich harmloser an als die deutsche Übersetzung Mein Kampf. Irreführungen und Irritationen hat der Verlag zu vermeiden gesucht, indem er für den deutschen Markt auf verträgliche Einzeltitel wie Sterben (Band Nummer 1) oder Lieben (Nummer 2) setzt. Die restlichen vier Bände sollen übrigens folgen; der Übersetzer Paul Berf hat also noch einiges zu tun. Auch ihm sei es gegönnt.

Worum geht’s denn nun? Um Karl Ove Knausgård. Knausgård erzählt über Knausgård. Unter seinem Klarnamen. Keine Deckung also. Es geht um ihn und sein Leben. Und einen Kindergeburtstag! Er tritt als Konservator seiner selbst auf. Knausgård hält fest, dokumentiert, nein: seziert Erlebtes, Gedachtes, Erfahrenes. Ichzustände. Seinszustände. Er beschreibt die Querelen und Qualen des Alltags im Malmö, mit Frau und Kindern. Den Blick aus dem Fenster auf die Bäume. Die Strapazen eines Urlaubs. Das Sterben des Vaters. Die Macht eines Hölderlin-Verses. Die Spielarten der Liebe. Die Sorge, künstlerisch unterzugehen in der Banalität des Lebens. Er deklariert die Autobiografie als Roman, was derzeit en vogue ist. Ulla Hahn, Felicitas Hoppe, Hanns-Josef Ortheil, um nur einige zu nennen, gehören auch zur Fraktion der fiktionalen Autobiografen. Dass die Verknüpfung von Fiktionalität und Authentizität kein Widerspruch sein muss, wäre einen weiteren Gedankenschlenker wert, aber der Kindergeburtstag wartet. Und der führt zu einem eigenartigen Phänomen. Also: Karl Ove Knausgård wird als moderner (mit)erziehender Vater mehr oder weniger genötigt, mit Frau und Kindern einer anderen Familie mit Kindern einen Besuch abzustatten. Er ahnt, quälende Stunden der Langeweile liegen vor ihm. Knausgård ist hart zu sich selbst und zu den Lesenden. Er ist bereit, für seinen Roman die Stunden zwischen der Einladung zum Kindergeburtstag, seinem Vollzug (samt aufwändiger Anziehprozedur, ungeliebten Möhren- und Gurkenschnitzeln, fehlender Süßspeise, einer Erwachsenenkonversation, die sich kaum von der der Kinder unterscheidet, einem Kind, das die Erde aus einem Yucca-Palmen-Topf auf den Teppich häufelt und einem anderen, das sich versehentlich einschließt) und dem Moment, in dem die Eltern erschöpft ins Bett sinken, noch einmal Revue passieren zu lassen. Mehr noch: Knausgård berichtet auf eine Weise von diesem Nachmittag, dass man ihm glatt masochistische Motive unterstellen könnte. Die Zeit beginnt sich zu dehnen unter seiner Bearbeitung. Es entsteht der Eindruck, als stimme die Zeit des Aufschreibens mit der des tatsächlichen Erlebens überein. Und als entspräche die Zeit des Lesens wiederum annähernd der Zeit dieses verlebten Nachmittags. Bei dieser Passage, die exemplarisch ist für Knausgårds Programm, handelt es sich im Grunde um eine Reportage, die ein Kriterium erfüllt, das längst in Vergessenheit geraten ist: die Deckungsgleichheit von Raum und Zeit. Man könnte auch sagen: Knausgård erfüllt mit seiner in-sich-geschlossenen Handlung die aristotelischen Kriterien einer Tragödie. Allerdings in abgespeckter Form. Nicht Mimêsis, sondern pure Nachahmung des Erlebten – mit dem Effekt, dass man beim Lesen in einen Zustand der Duldungsstarre eintritt. Gebannt wie ein Kaninchen, wartend, ob die Schlange doch noch zubeißt – obwohl sie gar nicht anwesend ist. Man ist beinahe erstaunt, dass sich am Ende der Lektüre kein Schokoladenklecks auf der Hose befindet. Knausgårds Prosa sei wirklicher als die Wirklichkeit stand in einer Rezension. Das ist flott formuliert, liegt aber knapp daneben. Es findet kein Ersatz von Wirklichkeit statt, sondern, wenn man so will, eine Verdopplung. Die Chronologie ist nicht auszuhebeln. Das mündet in andere Fragen, über die Jorge Luis Borges und Umberto Eco nachgedacht haben. Bei ihnen geht’s um eine Landkarte im Maßstab 1:1, was letztlich ein Pendant zu Knausgårds literarischer Vorgehensweise darstellt. Borges lässt Karthographen eine solche Landkarte fertigen, die die Größe des Reichs besaß, so heißt es, und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Ein gigantisches Vorhaben, das Borges wenige Zeilen später seltsam sang- und klanglos der Vergessenheit anheimgibt: eine Generation später nisten Tiere in den Überresten der Ruinen der Karte. Umberto Eco dreht die Schraube ein wenig weiter und beleuchtet die Paradoxien, die sich beim Erstellen einer Karte ergeben, die nicht in Konkurrenz treten soll zum Original, die nicht verändernd wirken darf, die deckungsgleich mit dem sein soll, was sie darstellt, ohne identisch mit ihm zu sein, was fatale Auswirkungen auf die Untertanen hätte, die dann in Wirklichkeit auf der Karte leben würden. Eco kommt zu dem Schluss: Jede Karte des Reiches im Maßstab 1:1 besiegelt das Ende des Reiches als solches und wäre mithin die Karte eines Territoriums, das kein Reich mehr ist. Kunst versus Leben, zugunsten der Kunst. Auf Karl Ove Knausgård und seine in die Literatur übertragene Karte des Lebens hieße das: Je präziser sie ausfällt, desto mehr verblasst das Leben. Es verschwindet, löst sich auf. Bange Fragen liegen in der Luft: Hat er gelebt, bevor er geschrieben hat? Was ist geschehen, während der Jahre des Schreibens? Lebt Knausgård überhaupt?

  • Karl Ove Knausgård: Sterben
    Aus dem Norwegischen von Paul Berf
    München 2011
  • Karl Ove Knausgård: Lieben
    Aus dem Norwegischen von Paul Berf
    München 2012
  • Jorge Luis Borges: Von der Strenge der Wissenschaft
    In: Borges und ich – Gedichte und Prosa
    Übersetzt von Karl August Horst und Giesbert Haefs
    Frankfurt a. M. 2005
  • Umberto Eco: Die Karte des Reiches im Maßstab 1:1
    und Wie man seine Zeit nutzt
    in: Umberto Eco: Sämtliche Glossen und Parodien
    Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber und Günter Memmert
    München 2002

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Alter Schwede

gesprochen von Gabi Rüth

Wie alt war Candide eigentlich, als er loszog, uns das Fürchten vor uns selbst zu lehren? Wie alt ist einer, der das Staunen über das Grauen noch nicht verloren hat, zugleich aber über eine satte Portion Chuzpe verfügt, die es ihm erlaubt, sich in Lebensgefahr zu begeben und nicht darin umzukommen?

Candide war ein Jüngling, dem die Natur den sanftmütigsten Charakter mit auf die Welt gegeben hatte, heißt es. Und eine Portion gesunden Menschenverstand. So heißt es auch. Allan Karlsson ist gerade hundert geworden. An diesem denkwürdigen Geburtstag beginnt der Roman von Jonas Jonasson, der in den vergangenen Wochen die Bestsellerlisten stürmte. So sagt man in der Branche. Bestsellerlisten werden gestürmt. Als handle es sich um zu besetzendes Feindesland. Wobei, wie sich noch herausstellen wird, die Metapher zu diesem Helden nicht schlecht passt.

Den Beginn des Plots gibt der Titel wieder – das ist im schwedischen Original nicht anders als in der deutschen Ausgabe: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. So geschieht es, exakt in dieser Reihenfolge. Allan Karlsson wartet im Zimmer des Altenheims auf die Dinge, die unweigerlich kommen sollen, weil er hundert wird. Es muss gratuliert und angestoßen werden, der Bürgermeister muss vorbeischauen, um dem Jubilar die Hand zu drücken. Man ahnt Schlimmes: Johannes Heesters wurde einhundertacht. Die Zwangsprozeduren bei Geburtstagen dieser Altersstufe sind uns vertraut. In den letzten Jahren konnte man der medialen Wiedergabe der Inszenierungen dieses greisen nimmersatten Bel Ami schwerlich entkommen. Wäre er doch irgendwann hinter dem Vorhang geblieben. So einer ist Allan Karlsson nicht. Aber er ist ja auch eine Fiktion. (In Klammern gesprochen: Zuletzt war ich mir bei Jopi, unserem auf ewig lustigen Vagabunden, nicht mehr sicher, ob es sich nicht auch um eine fiktionale Gestalt handelt. Schluss damit.)

Allan Karlsson will dem Geburtstagstrubel entfliehen, noch eher dieser beginnt. Also steigt er, den knirschenden Knien trotzend, aus dem Fenster und verschwindet. Es folgt eine ebenso merk- wie denkwürdige Parforcejagd, bei der ein von Allan geklauter Koffer, nicht von Allan geklautes Geld, die Drogenmafia, ein Elefant und eine verdammt schöne, rothaarige Frau, die gerne flucht, eine Rolle spielen. Eine Menge Situationskomik, Slapsticks und Klamauk – keine Komödie aus dem Millowitsch-Theater, viel herber und derber. Die ein oder andere Leiche gibt es auch, ohne dass viel Aufhebens davon gemacht würde. Während Allan die Flucht nach vorne ergreift, dreht der Autor kapitelweise die Zeit zurück. Jonasson rollt Allans Leben auf und zeigt, dass es auch im zwanzigsten mit der besten aller Welten nicht anders bestellt war als im achtzehnten Jahrhundert. Allan wird gewissermaßen an die Brennpunkte des Weltgeschehens katapultiert: Er gerät im spanischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten, kommt nach Los Alamos, arbeitet aber auch für die ehemalige Sowjetunion, wird gefangen genommen und wieder befreit. Ach ja: Ich sollte erzählen, dass der Mann Sprengstoffexperte war. Das erklärt die grenzüberschreitenden Begehrlichkeiten der Militärs.

Allans Charakter, diese Voltairesche Mischung aus Arglosigkeit und Unerschrockenheit, Neugier und Pragmatismus, lassen auch ihn die aberwitzigsten Wendungen des Lebens überstehen. Ich möchte wirklich wissen, was schlimmer ist, wird der allmählich zur Ruhe kommende Candide gefragt, (…) nur eine Hinterbacke zu haben, bei den Bulgaren Spießruten zu laufen, bei einem Autodafé ausgepeitscht und gehängt und dann bei lebendigem Leibe seziert zu werden, an die Galeerenbank gekettet zu sein – kurz, all das Elend zu erdulden, das wir alle durchgemacht haben, oder lieber hier zu sitzen und sich vor lauter Nichtstun tödlich zu langweilen? Candide weicht der Frage aus. Allan, der alte Schwede mit dem Lebensmotto eines Wahlkölners: Es ist, wie es ist, es kommt, wie es kommt, und es ist noch immer gut gegangen, dieser Mann türmt aus der gepflegten Langeweile seines Altenheims, um der Welt und dem Bürgermeister, der biestigen Schwester und dem Kommissar zu zeigen, was eine Harke ist. Der Mann ist hundert, runder geht’s nicht mehr. Das sichert ihm eine gewisse Unantastbarkeit. Meine Vermutung ist, dass genau hierin der Schlüssel zum Erfolg des Romans liegt. Nein, es liegt nicht daran, dass Jonas Jonasson uns die Absurdität unserer Welt auf erprobte Weise vor Augen führt. Davon haben wir bereits Kenntnis. Es liegt an der Rebellion des Alten, an seinem Aufbegehren, an dem Aufbruch aus der Lethargie.

Rechnen wir nach: 400 000 verkaufte Exemplare in den ersten Wochen nach Erscheinen des Romans. Das stemmen die über 90Jährigen in Deutschland locker. Meine These: Der Verkaufserfolg ist als Votum der Alten zu werten. Allans Renitenz steht stellvertretend für die der Käufer. Noch leben sie sie symbolisch aus. Aber wer weiß. Bekanntlich richtet sich das Leben bisweilen nach der Literatur. Darauf freue ich mich.

  • Jonas Jonasson
    Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand
    Übersetzt von Wibke Kuhn
    München 2011
  • Voltaire
    Candide
    Übersetzt von Ilse Lehmann
    Frankfurt a. M. 1972

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Hunde / die zweite

gesprochen von Gabi Rüth

Ein Mann sieht rot: Auch wenn Sie diesen Film nie gesehen haben, Sie kennen ihn. Der Titel und der Name des Helden – es ist Charles Bronson – geben erschöpfend Auskunft. Bronson übt Rache für das, was man seiner Frau und Tochter zugefügt hat: Sie wurden überfallen und vergewaltigt, seine Frau stirbt an den Folgen. Beinhart und kompromisslos, wie das Publikum es zu schätzen scheint, vollzieht der Ehemann Selbstjustiz. Der Film aus dem Jahr 1974 war überaus erfolgreich. Winter in Maine, der Roman des irischen Schriftstellers Gerard Donovan, ist es ebenfalls. Mit viel Getöse auf den deutschen Markt geworfen, unterstützt von kollegialen Lobhudeleien – ein kleines Meisterwerk, schreibt Colum McCann –, als Motto noch eine Lebensweisheit von Marc Aurel vorangestellt, so dass man rufen möchte, hätten Sie das Ganze nicht eine Nummer kleiner. Ein Buch also, flankiert von den inzwischen üblichen verkaufsfördernden Maßnahmen, die die Leser noch vor dem Lesen auf eine klug gebaute, komplexe Erzählung voller Raffinesse einstimmen sollen. Und dann das: Wieder sieht ein Mann rot. Sonst nichts. Nicht in New York, sondern in Maine. Nicht im Großstadtdschungel, sondern in den tief verschneiten Wäldern im nordöstlichen Zipfel der USA. Nicht weil seine Frau gestorben ist, sondern – sein Hund. Ich glaube, ich habe den Schuss gehört, lautet der erste Satz des Romans. Und wenige Seiten später haben der Held Mr. Winsome und die Leser Gewissheit: Hobbes wurde erschossen. Er wurde gemeuchelt. Von Jägern. Bevor Sie bei dem Namen Hobbes aufhorchen: Der Name habe keine weitere Bedeutung, behauptet der Erzähler. Und warum nennt er ihn dann nicht Bello oder Rollo? Oder wie immer Hunde gewöhnlich heißen. Solch scheinbar tiefstaplerischen Bemerkungen vergällen mir jede Knobelfreude. Da kommt noch einiges hinzu. Ich könnte zum Beispiel über die Überschaubarkeit des Sujets lästern – ein Haus, ein Mann, ein Hund –, über einen gewissen Hang zum Simplen, der sich auch in der Syntax spiegelt. Ich könnte die Bemühungen des Autors geißeln, mit Hilfe von Shakespeare-Verweisen und dem Einbau von Versatzstücken seines dramatischen Vokabulars die Dürftigkeit des Textes zu übertünchen und das eher biedere Liebes-Rache-Selbstzerfleischungsdrama aufzumöbeln. Denn Mr. Winsome muss nicht nur über den Verlust des Hundes hinwegkommen, sondern auch den der Frau. Sie ist zwar nicht tot, aber sie hat ihn verlassen. Ich könnte also noch eine ganze Weile mäkeln. Wäre schön, in diesem Fall aber ohne Relevanz, denn mich interessiert der Hund. Und die Frage, welche Funktion er hat, wofür er steht. Donovan ist nämlich nicht der Einzige, der einen Hund zum Helden erklärt. Im Fall seines Romans Winter in Maine liegt die Antwort auf der Hand: Hunde sind die besseren Menschen. Vielleicht nicht alle Hunde, aber Hobbes. Hobbes und Mr. Winsome sind, pardon: waren, befreundet. Ein Paar, möchte man sagen, auf Augenhöhe. Eine echte Männerfreundschaft. Die kommt ohne viele Worte aus. Mein Freund fehlte mir, trauert Mr. Winsome und zieht in den Krieg, den Schrotflintenmörder seines treuen Gefährten zu stellen und zu richten. Leider erschießt er ein paar Unschuldige. Aber der Autor schildert den Tatbestand so, dass Mr. Winsomes Rachefeldzug entschuldbar scheint. Er überhöht den Terrier zum unerschrockenen Gefährten und Allesversteher, er mystifiziert den Hund zum Heiligen. Sein gewaltsamer Tod rechtfertigt alles. Dieses Moment der Verklärung gibt es auch in dem Roman Ein feiner Herr und ein armer Hund von Adriaan van Dis. Der Text übersteigt bei Weitem die Trivialität des Walddramas Donovans, aber es gibt eine auffällige Parallele: Die Integrität, ja die ethische Hoheit liegt hier wie dort aufseiten eines Hundes. Der arme Hund aus den Pariser Einwanderer-Vierteln, der die Welt der Illegalen und Obdachlosen kennt, weist dem feinen Herrn, der bislang eher über die Champs Elysées flanierte, den rechten Weg. Der feine Herr durchläuft eine Metamorphose zum edlen Herrn. Dank eines Hundes. Was ist hier los? Wird eine neue Generation von Fabeln eingeläutet? Pädagogisch wertvoll, literarisch eher fragwürdig – fast hätte ich gesagt, ein ästhetisches Konzept, das zum Gähnen reizt: Ein Tier übernimmt die soziale Funktion des Wegweisers und Entwicklungshelfers. Der Hund domestiziert den Menschen. Das ist im Übrigen eine Inversion der Konzeption Thomas Manns, die einen unter uns gesagt auch nicht mehr vom Hocker reißt. Seine Schulter begütigend tätschelnd lobt in der Erzählung Herr und Hund der Herr den Hund zwar durchaus als aufmerksamen Begleiter, tituliert ihn bisweilen auch wohlwollend als nahen Freund, aber die Hierarchie, bitteschön, ist unantastbar: Der Mann ist der Herr, der Hund der Hund. Bisweilen zwar wildfremd und sonderbar – und vielleicht die nicht gelebten Gelüste seines Besitzers ansprechend und gefährlich hervorlockend, doch im Großen und Ganzen von überschaubarem bäurischem Gemüt: Er ist ein vitaler Jägerbursch und kein Professor. Der Herr erfreut sich am ungebrochenen Lebensdrang seines Hundes Bauschan, froh, dass er nicht die närrischen Anteile eines überzüchteten adligen Tieres hat, wie einst Percy. Darüber hinaus kann er sich stets sicher sein, wer in dem Zweiergespann der geistig Überlegene ist. Jedenfalls tut er so, als sei er sicher. Er wahrt Distanz. Und mit genau dieser Distanz lässt sich ein durchaus subtiles Spiel spielen. Da wird’s interessant. Marion Poschmanns Heldin aus der Hundenovelle zum Beispiel kann sich den Auf- und Zudringlichkeiten eines Hundes kaum erwehren: Ein halb verwilderter Hund – Er war auf ungewöhnliche, beängstigende Weise schön – bringt die Frau dazu, ihn aufzunehmen. Doch der Verlauf der Geschichte folgt eben nicht dem genannten Erlösungsmuster. Poschmann bedient sich einiger Versatzstücke, schreibt dem Tier gewisse Fähigkeiten zu – Vielleicht las er meine Gedanken, mutmaßt die Frau, doch letztlich bleibt sie eine emotionale Streunerin – da kann der Hund machen, was er will. Und die Frage ist ohnehin, ob er will. Rettung für die Einsame ist jedenfalls nicht in Sicht. Auch nicht für den Hund. Er wird von Frauchen ausgesetzt, kehrt heim – und stirbt. Für solch einen drastischen Bruch mit jedem Kuscheltierambiente und anderweitigen Verklärungen gebührt der Autorin Dank. Zumal sich zur psychologischen Pointe auch noch die mythologische Weitung des Themas gesellt: Es ist Sommer. Hundstage sind zu vermelden. Die Tage, an denen es sehr heiß ist und sich der Große Hund am Himmel zeigt, der schon immer davon kündete, dass das Reich des Dunklen nah ist – mag es draußen noch so hell sein. Die Strahlen, die er sendet sind leuchtend und kalt, er trägt den hellsten Stern des Himmels im Maul, heißt es bei Marion Poschmann. Welch triumphierende Geste. Oder doch nur der Augenblick, ehe der Hund zum braven Apportieren ansetzt? Gerard Donovan, der Hundeflüsterer bzw. der Mann, dem der Hund was geflüstert hat, wüsste todsicher eine Antwort. Marion Poschmann nicht. Das ist ihr Plus.

  • Gerard Donovan:
    Winter in Maine
    Übersetzt von Thomas Gunkel
    München 2009 (Luchterhand)
  • Adriaan van Dis:
    Ein feiner Herr und ein armer Hund
    Übersetzt von Marlene Müller-Haas
    München 2009 (Carl Hanser Verlag)
  • Marion Poschmann:
    Hundenovelle
    Frankfurt a.M. 2008 (Frankfurter Verlagsanstalt GmbH)

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Auf den Hund gekommen

gesprochen von Gabi Rüth

Auf der nach oben geschlossenen Skala der nervigsten Fragen an Schriftsteller rangiert für mich im obersten Drittel: Sagen Sie, haben Sie das alles erlebt? Wirklich erlebt? Worauf der Fragende gern ein Stückchen näher rückt und nachschiebt: So wie Sie schreiben, müssen Sie das alles erlebt haben. Wahlweise die Liebe am Kap, das Ränkespiel der Börsianer, die Deportation oder die Ménage à trois. Die Frage kommt immer. Sie hat steigende Konjunktur. Sie kleidet sich in unterschiedliche Gewänder. Auch Jesus, Odysseus und Heraklit stehen auf dem Prüfstand. Haben sie wirklich gelebt und gewirkt? Nur das zählt, suggerieren die in Terra-X-Manier gedrehten Filmchen, aufgepeppt mit Computeranimationen und Laienspielszenen, die die Dürftigkeit der Fragestellung kaum kaschieren können. Sollen sie forschen und darüber berichten, meinetwegen, aber bitte nicht mit diesem Anspruch, der die Glaubwürdigkeit der Odyssee an das Faktum der Existenz des Odysseus knüpft. Personen, Taten, Geschehnisse, die die Wurzeln unserer kulturellen Identität bilden, werden im Laufe des generationenübergreifenden Transfers wahr – sie erlangen gewissermaßen eine Weise der Wahrhaftigkeit, die unabhängig ist von ihrer realen Existenz. Und das gilt selbstredend auch für die Literatur. Die Frage nach, wie soll ich sagen, nach dem Erlebnisgrad des geschriebenen Wortes ist irrelevant in Bezug auf die Qualität des Geschriebenen. Es stört mich nicht so sehr der Voyeurismus, der sich hinter der beflissenen, an der Literatur (und an sonst nichts) interessierten Schein-Seriosität versteckt. Es ärgert mich nicht die Spannermentalität. Nein, mich ärgert, mich erbost die implizite Botschaft, die da lautet: Eine Literatur, die auf faktisch Erlebtem basiert, ist mehr wert als eine rein fiktionale. Diese Aussage ist ebenso unsinnig wie die umgekehrte, nach der die wahre, reine Literatur die ist, die sich vom Leben gänzlich abkoppelt. Wobei ich mich schon immer gefragt habe, wie das eigentlich gehen soll: Fließt nicht immer ein bisschen gelebtes Leben ein? Schließlich hat selbst ein Dichter nicht zwei Köpfe. Das nur in Klammern gesagt. Also: Das wirklich Erlebte wird gern gegen das bloß Erdachte in Stellung gebracht. Welcher Unfug – in vielerlei Hinsicht. Ganz abgesehen davon, dass das Wirklichkeits-Konzept, das da hervorblitzt, fragwürdig ist. Was heißt schon wirklich erlebt in einer Zeit, in der die Hirnforscher aus dem Labor rufen, dass wir erlebte und gehörte Geschichten auf gleiche Weise speichern, unser Gedächtnis also keine scharfe Trennlinie zwischen Realität und Fiktion kennt. Aber auch das nur am Rande. Dieses unselige Unterfangen, den realen, gern als Wahrheitsgehalt (was auch immer das ist) apostrophierten Kern eines Textes zu extrahieren, degradiert die Literatur zur Erfüllungsgehilfin der Realität. Natürlich vermag die Kunst Ungeheures in einer ungeheuren Weise zur Anschauung zu bringen. Semprun lehrt es, natürlich Kertész. Das ist nicht der Punkt. Es ist dieses arrogante Beharren auf dem Fehlschluss, die Güte etwa einer Erzählung hänge davon ab, ob der Autor oder die Autorin den Stoff aus dem eigenen Leben bezieht oder nicht. Das ist ignorant – nicht nur wegen der Brüchigkeit jeder Erinnerung, sondern weil die Authentizität einer Erzählung stets in der Erzählung selbst zu suchen ist: Sie muss in sich konsistent sein, ohne Verweis auf einen außerhalb liegenden Anker. Ihr Weltentwurf, ihr symbolisches oder metaphorisches, wie auch immer zusammengeschweißtes System muss in sich schlüssig sein. Wie ich darauf komme? Durch das Lesen, das wiederholte Lesen des Textes Idylle mit ertrinkendem Hund, den der Österreicher Michael Köhlmeier 2008 veröffentlicht hat. Eine Novelle, die auf dem Cover allerdings nicht als solche ausgewiesen ist – der Autor hat auf jede Gattungszuweisung verzichtet. Worum geht’s? Ein Schriftsteller bekommt Besuch von seinem Lektor: Dr. Beer, ein spröder Mann, besessen von der Literatur und seinem Beruf, sparsam in Bezug auf privaten Austausch. Doch im Haus des Schriftstellers und seiner Frau beginnt er sich wohlzufühlen. Auf einem der Spaziergänge durch den Schnee passiert ein Unglück. Die beiden Männer beobachten, wie ein Hund in einen zugefrorenen See einbricht: Er stemmte sich mit den Vorderläufen auf dem Eis ab, aber zwei Drittel seines Körpers waren bereits nach wenigen Sekunden unter Wasser. Während Dr. Beer losläuft, um Hilfe zu holen, versucht der Schriftsteller verzweifelt, den Hund zu retten. Er robbt aufs Eis, greift das Tier, aber es gelingt ihm nicht, es aus dem Wasser zu ziehen: Das Wasser durchweichte den Mantel und drang bis zur Haut durch, und da dachte er ein drittes Mal daran, den Hund loszulassen. Wenn er tot ist, was für einen Zweck hat es, wenn ich ihn weiter festhalte? Aber der Hund lebte noch. Die gesamte Novelle ist auf diese, sich über mehrere Seiten erstreckende Szene ausgerichtet. Eine Szene, die ihr dramatisches und tragisches Potential nicht nur aus sich selbst bezieht. Wenige Seiten zuvor erfährt man, dass der Schriftsteller und seine Frau vor drei Jahren ihre Tochter Paula verloren haben. Sie ist auf einer Wanderung abgestürzt. Niemand konnte ihr helfen. Die Kernszene der Erzählung funktioniert also wie ein Kulminationspunkt, in dem Ohnmacht, Hoffnung, Trauer und Ausweglosigkeit ob des gewesenen und des geschehenden Unfalls miteinander verschmelzen. Das ist gelungen wie die gesamte Novelle gelungen ist. Und nun kommt’s: Diese Erzählung ist im entscheidenden Teil autobiografisch, was Köhlmeier kaum zu verschleiern versucht. So übernimmt er z.B. den tatsächlichen Namen seiner Tochter. Paula ist 2003 mit 21 Jahren tödlich verunglückt. »Wie kann ich über den Tod unserer Tochter schreiben?« fragt der Erzähler in einer Art Selbstgespräch: »Willst du denn darüber schreiben?« - »Das möchte ich, ja.« - »Ich denke, ich weiß, wo das Problem liegt. Du bist dir nicht sicher, ob du Literatur machen willst oder bloße Erinnerung, hab ich recht?« Nicht, dass wir uns missverstehen. Das Geschehene, der Unfalltod Paulas, ist schrecklich, ist vielleicht das Schrecklichste, was Eltern passieren kann. Gerade deshalb darf das außerhalb respektive vor der Literatur liegende Faktum nicht zu ihrer Beglaubigung herhalten, es darf nicht Maßstab werden für die Überzeugungskraft des Textes. Die Folge wäre eine Entwertung – und zwar des Lebens wie der Literatur. In diesem Sinn ist Idylle mit ertrinkendem Hund ein überzeugender Text – obwohl er wahr ist. Wage niemand den Autor zu fragen, ob er die Geschichte mit dem Hund wirklich erlebt hat.

  • Michael Köhlmeier:
    Idylle mit ertrinkendem Hund
    Wien 2008

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Pro Fußnote e.V.

gesprochen von Gabi Rüth

In diesem Land existiert für alles eine DIN Norm. Auch für Fußnoten. DIN 5008 regelt ihre korrekte Nummerierung und den Einsatz des Fußnotenstriches. Auch Grundstrich genannt. Fußnoten zählen zum wissenschaftlichen Apparat. Fußnoten sind lästiges Übel, Beiwerk, Werkzeug – allein dieses technokratische Vokabular zeugt davon, dass es hier in erster Linie um Akte der Verwaltung geht. Obwohl das nicht immer stimmt: Manchmal verlässt ein Autor in einer Fußnote den stringenten Weg seiner im Haupttext dargebotenen Argumentation zugunsten einer assoziativ motivierten Anmerkung, einer süffisanten Replik auf die These eines Kollegen oder gar einer Abschweifung. Eine Denkfigur, der ich gern huldige, gefasst in eine metaphorische Umschreibung, die mir gefällt: Ich sehe förmlich den Ausgangspunkt, von dem ein Gedanke sich loslöst und frei, sich dem Raume überlassend, seine Bahn zieht. Nur der Schweif ist noch erkennbar. Aber das am Rande. Natürlich sind sowohl nationale wie europäische DIN Normen im Land der Fiktion ohne Gültigkeit. Aber täuschen wir uns nicht: Schlägt man einen Roman auf, dessen Schriftbild an zähe Lesestunden gemahnt, ist es aus mit der freudigen Gestimmtheit. Als ob eine Altlast den freien Zugang blockierte. Es heißt, Anthony Grafton, Autor der durchaus seriösen Studie Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote (Berlin 1995), habe die Fußnoten mit einer Toilette verglichen, ohne davor zurückzuschrecken, die damit verbundenen, möglichen Übel explizit zu nennen. Zum Beispiel den schlechten Geruch. Sie schlagen also einen Roman auf, finden Fußnoten vor und … – na ja, Sie wissen, was ich meine. Haben Sie aber den Impuls der Abwehr überwunden, werden Sie durchaus in dem ein oder anderen Fall belohnt. Nehmen wir Nacht des Orakels von Paul Auster oder den Weiberroman von Matthias Politycki. So geht’s doch: Erstens hält sich Paul Auster zurück, was die Anzahl der Fußnoten betrifft, und zweitens macht es Laune zu lesen, wie er die Authentizität seines zunächst schreibgehemmten Erzählers durch die Informationen in den Fußnoten zu stützen sucht. Zudem ahnt man, dass das dramaturgische Spiel noch längst nicht ausgereizt ist. Matthias Politycki fährt gleich das komplette Programm auf: Der Autor mimt den Herausgeber eines fragmentarischen Textes, einer Hinterlassenschaft, die nicht in einer Flasche, sondern in einer Pension auf der Insel Frauenchiemsee gefunden wurde. Selbstverständlich verlangt ein als historisch-kritische Gesamtausgabe getarnter Liebesroman einen kompletten Anhang mit editorischen Notizen, Zeittafel und Anmerkungsapparat. Die Fuß- treten hier als Endnoten auf, die garantiert die DIN-Norm 5008 erfüllen, aber vor allem sind sie Teil eines ästhetischen Kunstgriffs, dessen Sinn darin liegt, den Inhalt des Weiberromans zu untermauern – und zugleich zu untergraben. Germar Grimsen dreht mit Hinter Büchern. Der Reigen die Schraube noch eine Umdrehung weiter. Wobei er das Spiel mit den Fußnoten nicht auf die Spitze treibt, sondern umkehrt: Existieren bei Auster und Politycki Haupttexte, denen Fuß- bzw. Endnoten zugeordnet sind, so besteht Hinter Büchern aus Fußnoten, zu dem ein mehr oder weniger notdürftiger Haupttext geschrieben wurde. Ich gehe jede Wette ein: Ehe dieser Roman zum Roman wurde, existierten die Fußnoten. Noch in Form von Notizen, verwahrt vielleicht in guten alten Zettel- oder Karteikästen: eine Art Privatlexikon des Autors, der alles sammelte, was er je gehört, gelesen oder recherchiert hat. Das heißt: Er besaß die Fußnoten. Und nun brauchte es halt den Plot als Wäscheleine, um sie aufzuhängen. Dieser Plot geht ungefähr so: Wiebke, eine Studentin, und Knud, ihr Hund, besuchen regelmäßig Flohmärkte und das Antiquariat Christian Kellers, das im Bremer Schnoor-Viertel liegt. Das muss so sein, denn der Antiquar ist der Protagonist und der Buchladen der zentrale Schauplatz. Sie ahnen nicht, wie viele Fußnoten bis jetzt bereits möglich sind. Über diesen sehr speziellen Stadtteil lässt sich einiges sagen, über den Hund natürlich, flugs kommt der Autor Germar Grimsen, auch er war übrigens mal Antiquar in Bremens Innenstadt, zu Bärli und Zerberus und Newton, der wohl ebenfalls mal einen Hund hatte, aber auch irgendwie zu Claudius und der Reform des lateinischen Alphabets. Das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Der Zufall will’s nämlich, dass Wiebke auf dem Flohmarkt ein zerfleddertes Buch geschenkt bekommt, das einen unbekannter Hölderlin-Erstdruck enthält. Ohne zu ahnen, welchen Schatz sie in Händen hält, gibt sie das Buch an Keller weiter. Obwohl der Antiquar das Buch durchblättert und zudem ein ausgewiesener Hölderlin-Kenner ist, entgeht auch ihm der Fund. Wenn Sie jetzt ernsthaft nach dem Grund fragen, habe ich das Konzept des Romans nicht deutlich machen können und vor allem nicht das Credo Herrn Kellers: Wer Anstand hat, fragt nicht. Also weiter: Der Hölderlin-Druck wird gestohlen, wiedergefunden, Bremens Antiquare wittern ein Geschäft, das große Schachern beginnt. Steht in der Inhaltsangabe, die der Verlag wohlweislich mitgeliefert hat. Ich bin gar nicht erst bis zum Schachern gekommen, denn was soll ich sagen: Dieser Roman ist nicht lesbar. Jedenfalls nicht im konventionellen Sinn, Zeile für Zeile, Seite für Seite. Jedenfalls nicht unbeschadet, wenn man die eigene Gesundheit im Auge hat. Folgen Sie der Logik des Autors und verlassen brav bei jeder Fußnote den Haupttext, verlagern Blick und Aufmerksamkeit auf den unteren (zu allem Überfluss auch noch zu klein gedruckten) Fußnotenteil, so drohen Sie im Zwang der abrupten Themenwechsel nicht nur den Überblick, sondern auch die Nerven zu verlieren. Also bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie werfen nach 50 Seiten den Großroman, ob der schieren Materialität vom Verleger so tituliert, löblicherweise mit einem Augenzwinkern, allerdings mit Verweis auf Musil und Arno Schmidt, falls jemand mal gerade nicht an diese Liga gedacht hat, also entweder sie werfen Hinter Büchern aus dem Fenster und beobachten, wie die Kräfte der Gravitation auf 1,5 Kilo Papier, fadengeheftet, einwirken oder sie überdenken die Kategorie Lesbarkeit. Denn wenn die Produktion des Autors von einem gewissen Maß an Selbstverliebtheit gesteuert ist, um es freundlich auszudrücken, wenn die Produktion also einer sehr individuellen Marschroute folgt, dann muss es gestattet sein, ihr eine ebenfalls individuell gestaltete Rezeption entgegenzusetzen. Praktisch heißt das: radikale Absage ans chronologische Lesen, ans Erfassen-Wollen jedes Details, stattdessen munteres Hineinlesen, Schneisen schlagen entlang wiederkehrender Themen oder Stichwörter. Nicht, dass ich nun soweit wäre, dem Verein Pro Fußnote beizutreten, aber ein gewisses Vergnügen stellt sich schon ein, betrachtet man den Roman als üppiges Büfett. Hier wie dort gilt: Sie bestimmen die Speisenfolge. Sind Sie an einem gedanklichen Ausflug zu Brennesseltee interessiert? Steigen Sie ein mit Fußnote 183. Oder wüssten Sie lieber etwas über Voltaire und die Affen? Fußnote 163 gibt Auskunft. Oder Sie nutzen das Personenregister. Von A wie Abaelard über Calvin, Hebbel, Hegel, Steiner bis Z wie Zwingli. Kalliope musste ran, sie musste das Register schreiben, so ist im Epilog zu lesen. Die Arme hat zwar gemurrt: Ach, ein Register zu singen ist blöd, sich aber dennoch gefügt. Unter einer Bedingung allerdings: ergrüble dir eine / Prächtige Sonderzuwendung: ich denke an ›viel Schokolade‹. Einen Riegel hätte ich jetzt auch gerne. Zur Belohnung – fürs Lesen.

  • Germar Grimsen:
    Hinter Büchern. Der Reigen. Aus dem Französischen von Christiane Seiler
    Berlin 2009
  • Matthias Politycki:
    Weiberroman
    München 1997
  • Paul Auster:
    Nacht des Orakels. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz (Originalausgabe: Oracle Night, 2003)
    Reinbek bei Hamburg 2004

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Bin wieder da

gesprochen von Gabi Rüth

Als das Schiff bereits geladen, das üppige Gastmahl jedoch noch in vollem Gange ist und der Sänger unbeirrt singt, überfällt Odysseus eine große Unruh’: Aber Odysseus / Wendete viele Male den Kopf nach der strahlenden Sonne, / Auf ihren Untergang drängend; er sehnte sich endlich nach Heimkehr. Dieser Moment, in dem die Sehnsucht sich neu justiert, markiert die Umkehr: Aus dem Aufgebrochenen wird der Heimkehrer, aus Odysseus der Prototyp des Zurückkehrenden, aus einem so beiläufig eingeläuteten Motiv eines, das bis heute in der Literaturgeschichte – um im Bild zu bleiben – fest verankert ist. Dieses Motiv scheint eine, wie soll ich sagen, gewisse Resistenz gegen Bagatellisierung, gegen Profanisierung entwickelt zu haben. Und das will etwas heißen: Denken Sie an all die verlorenen Söhne, die inzwischen heimgekehrt sind. Und wie ihnen gehuldigt wird, zum Beispiel beim 1. FC Köln. Der heimgeholte Lukas Podolski avanciert zum Heilsbringer. Wie viele Reisen sind getan, über die, im privaten wie im öffentlichen Raum, mit quälerischer Penetranz berichtet wird, obwohl es nichts zu berichten gibt? Wie weit haben Füße dazugehörige Heimkehrwillige getragen? In wie vielen Filmchen und Textchen wird auf das Sujet gesetzt? Wie viele Bären sind im Kreis gelaufen, um Panama dann doch daheim zu finden, wie viele Männer namens Hans haben ihr Glück in der Ferne gesucht – und sind arm, aber zufrieden wieder zu Muttern zurückgekehrt. – Fällt Ihnen etwas auf? Das Thema scheint, vorsichtig ausgedrückt, männlich dominiert zu sein. Hauen wirklich nur Männer ab? Ich weiß es nicht.
Jedenfalls scheint sich ein ganzer Zweig der Fernsehindustrie auf die wohlfeile Portionierung nicht nur der Geschichten der Auswanderer, sondern der Rückkehrer spezialisiert zu haben. Häppchenweise liefert sie sie als sogenannte Doku-Soaps. Doch letztlich können selbst diese lauen Aufgüsse dem Motiv nichts anhaben. Es gibt einen Rest, einen Kern, der sich jedem Trivialisierungsversuch widersetzt. Der, auch wenn es pathetisch klingen mag, unbefleckt bleibt. Woran liegt’s? Vermutlich an der Vielschichtigkeit des Motivs, sozusagen an der Kulminationsdichte. Positives wie Negatives hat sich ins kulturelle Gedächtnis gebrannt, das, wie Jan Assmann formuliert, weit zurückreicht in die Zeit. Ein Konglomerat menschlicher Erfahrung also, verwoben zu einem dichten Motivknoten. Welchen Faden Sie auch immer ziehen: der Knoten lässt sich nicht lösen. Hier ist Odysseus verortet, der schlafend den heimatlichen Hafen erreicht. Mit ihm all diejenigen, die aufgebrochen sind, um neue Entdeckungen – welche auch immer – zu machen. Die reich an Erfahrung zurückkehren – und nunmehr anders sind als die anderen. Sie kehren von ihren Reisen wieder und wissen etwas, was die Daheimgebliebenen nicht wissen. Das schafft Respekt und schürt zugleich Ängste. Heilige Scheu packt die Menschen vor Schamanen, deren Ausflüge in unzugängliche Bewusstseinswelten zugleich suspekt und faszinierend wirken. Poes alter Fischer, der den Sturz in den Malstrom überlebt hat und von Kollegen aufgenommen wird, erzählt: Die mich an Bord zogen, waren meine alten Kumpane und täglichen Gefährten – doch sie kannten mich so wenig, als sie einen Wandrer aus dem Geisterreiche erkannt hätten. Als Überlebender einer Katastrophe wird er gesucht und gemieden zugleich. Der Protagonist aus Philippe Claudels neuem Roman Brodecks Bericht ist auch solch ein Mann: Brodeck hat die Konzentrationslager überlebt. Ich kam aus dem Innersten der Erde zurück. Mein Körper sah aus wie der eines Toten. Und überall, wo ich auf meinem langen Weg vorbeikam, rannten die Kinder schreiend vor mir weg, als hätten sie den Teufel gesehen, während die Männer und Frauen aus ihren Häusern traten, mich umringten und berühren wollten. Nun kehrt er zurück in sein Dorf irgendwo an der deutsch-französischen Grenze. Er wird gemieden, da er die Dörfler an die Zeit der Kollaboration erinnert, an Verrat, an Schuld – aber auch, weil sein Erleben derart Ungeheuerliches einschließt, das ihn zu einem Anderen macht: Das Gefühl, anders zu sein, kannte ich gut.
Brodeck kennt noch etwas: Er kennt die Scham der Rückkehrer, die Scham, überlebt zu haben. So sieht die Grundkonstellation des Romans aus, in dessen Verlauf Brodeck zum Beobachter und Chronisten eines kollektiven Verbrechens wird: Ein Zugereister, ein Fremder, ein Anderer wie Brodeck selbst, wird getötet. Die Tiefe des Romans liegt in der Intonierung des Motivs der Rückkehr. Der Facettenreichtum des Motivs scheint unmittelbar auf – ob man will oder nicht. Das gilt auch für den Roman Kein schöner Land von Patrick Findeis. Schauplatz ist ein Kaff namens Rottensol. Allein bei diesem Namen und angesichts des wurmstichigen Apfels auf dem Coverfoto liegt der Gedanke nahe: Wer je diesem Nest entronnen ist, wird wohl kaum freiwillig dorthin zurückkehren. Von wegen Kein schöner Land in dieser Zeit / als hier das uns’re weit und breit! So bedarf es einiger dramaturgischer Eingriffe, um die Protagonisten zurück nach Rottensol zu bringen, auf dass sich dort eine Tragödie vollenden möge, die viele Jahre zuvor begonnen hat. Jetzt wieder nach Hause kommen, stöhnt Jürgen, einer der Heimbefohlenen. Nur so viel noch zum Roman: Bruderkampf, Brandstiftung, Rivalität, unschuldiges Schuldigwerden, das dann doch nicht so unschuldig ist – alles vorhanden. Und gewissermaßen satt unterfüttert durch das Rückkehr-Motiv, dessen sich Patrick Findeis auf durchaus geschickte Weise bedient. Und dann ist vor kurzem noch eine Erzählung erschienen, die in diese Reihe passt: Der Argentinier von Klaus Merz. Wenn ich Ihnen sage, dass diese Novelle nur 90 Seiten zählt, aber das lange Leben eines Mannes umfasst, der die Schweiz verlassen hat – Um wegzukommen aus der alten, auf Grund gelaufenen Welt –, um in der Steppe Argentiniens als Gaucho glücklich zu werden (was übrigens weder albern gemeint noch als Persiflage ausgeführt ist), dann ahnen Sie, dass Klaus Merz mit Leerstellen umzugehen weiß. Gerade soviel Informationen, dass die Ränder markiert sind, schon kommt der innere Film in Gang, gespeist aus dem kulturellen (und natürlich auch privaten) Bilderreservoir. Ein paar Mal das Rückkehrer-Motiv zusätzlich auf überraschende Weise intoniert, schon dehnt sich die Erzählung auf exakt die Länge, die der Leser wünscht. Meine Lieblingsbinnengeschichte ist die von den Siebenschläfern: Immer aufs Neue trägt der Argentinier die Tierchen aus dem Haus zurück in den Wald, um ihnen – wie man gerne sagt – die Freiheit zu schenken. Doch die possierlichen Viecher laufen schneller zurück als er selbst. Wie sämtliche Texte von Klaus Merz ist auch diese Novelle ein poetologisches Lehrstück – der Schweizer hat nun mal ein Faible für das Sichtbarmachen intertextueller Gefüge. Aber er macht es mit leichter Feder. Welch ein Vergnügen.

  • Philippe Claudel:
    Brodecks Bericht. Aus dem Französischen von Christiane Seiler
    Kindler/Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2009
    ISBN 3- 463-40555-1
  • Patrick Findeis:
    Kein schöner Land
    Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009
    ISBN 3-421-04417-4
  • Klaus Merz:
    Der Argentinier. Mit drei Pinselzeichnungen von Heinz Egger
    Haymon Verlag, Insbruck-Wien 2009
    ISBN 3-85218-580-4

(6)

Am Zeug flicken

gesprochen von Gabi Rüth

Der Mann heißt Flick und ist trotzdem arbeitslos. Das gibt es – jahrzehntelang dem etymologischen Auftrag (Flick, flicken, mhd. vlicken, einen Fleck, Lappen aufsetzen) gerecht werden, bis zum 60. Lebensjahr malochen, sich zum Experten für schwere Fälle, Havarien, hocharbeiten – man rief ihn: in der Not, wenn die Arbeit nicht weiterging, oft genug, daß er bekannt war in der ganzen Knappschaft –, um dann gesagt zu bekommen: Danke, das war’s. Ab jetzt sind Sie frei fluktuierendes Humankapital. Nun heißt der Mann mit vollem Namen Flick von Lauchhammer. Damit war ja eigentlich schon alles gesagt: Wer in Lauchhammer lebt und Geld und Ehre im Braunkohletagebau verdient hat, kann vorne noch Flick heißen und hat hinten schon ausgedient. In der Niederlausitz geht diesbezüglich schon lange nichts mehr. Was nicht ganz stimmt: Immerhin verdanken sich Wolfgang Hilbigs apokalyptische Visionen einer solch malträtierten Landschaft. Er meint zwar das Altenburger Land, wenn er 2003 in der Süddeutschen Zeitung schreibt: ... nein, es war nicht Landschaft zu nennen, worauf wir lebten, es waren Verwerfungen von Landschaft, die immer wieder neu verworfen worden waren, aber in der Lausitz sieht es nicht anders aus. Diese Form des künstlerischen Einverleibens und Fruchtbarmachens einer Gegend, die es hinter sich hat und verlassen wurde von den Mannschaften und Maschinen, wie es Volker Braun ausdrückt, steht auf einem anderen Blatt. Das legen wir beiseite, schließlich geht es um Meister Flick, der durchaus seinen Anteil hatte an der, um es neutral zu sagen, intensiven Neugestaltung dieses Landstrichs. Nun hätte der alte Sack an die Rente denken können, aber seine Mechanik war zu geölt, seine Unruhe zu lange aufgezogen worden, als daß er zur Ruhe kommen konnte. Anders formuliert: Flick ist seine Arbeit los, nicht aber seine Energie. Und die paart sich nun mit Wut. In bewährter voller Montur – Karabinerhaken am Koppel, roter Helm – okkupiert er das Arbeitsamtsbüro, um seiner Sachbearbeiterin, Frau Windisch (wie sollte sie auch sonst heißen), die Fragen zu stellen, die er ein Leben lang gestellt hat: Wo ist das Problem? Wann geht’s los? In völliger Ignoranz der Tatsache, dass er, Meister Flick, selbst das Problem ist, setzt er forsch und nichts und niemanden schonend zu einem Parforceritt durch die Welt der 1-Euro-Jobs, der Ämter, der Arbeitsbeschaffungs- und anderen Maßnahmen an, die die Marktwirtschaft sonst noch zu bieten hat für einen, dem Volker Braun das Motto des Romans in den Leib gehämmert hat: O Arbeit, besser wärs, du hättest nie begonnen. Einmal begonnen jedoch, solltest du nie mehr enden. Darauf besteht Flick in aller Unerschrockenheit, nimmt körperliche und andere Blessuren billigend in Kauf, bis das Fiasko im 47. Kapitel, worin Flick mit dem Tode ringt, seinem Finale furioso entgegengeht. Was soll ich sagen: Der Tod ist nicht die schlechteste aller Lösungen – vor allem für einen, der gar nicht gelebt hat. Denn Flick ist, das versteht sich von der ersten Zeile an, eine Kunstfigur wie sie künstlicher nicht sein könnte: ein Stückwerk, ums in Flicks Diktion zu sagen. Meister Flick jagt als Don Quijote durchs Land, lässt sich von Enkel Luten, der den Sancho Pansa gibt, nicht beirren: Windräder sind keine Windräder, sind Windflüchter, windige Flüchtlinge! […] Billiglöhner, Ausländer (nannte er die Landplage), die es zu bekämpfen gilt: die Flügel spitterten. Flick entstammt auch der ebenso stolzen wie verwirrten Ritterschar, die Paul Mersmann in seinem Zyklus Cavalleria andante (1994) auf eine (auch ihnen selbst) unbekannte Mission schickt: Oft kämpften die Ritter ohne jede Kenntnis Ihrer selbst und brachten sich empfindliche Niederlagen bei. Flick ist ein Schelm. Geprägt von den Narren aller Zeiten, den Simplen, den Gauklern und Bänkelsängern, die Gertrude Degenhardt ein ums andere Mal mit der Radiernadel bannt: diese derben Gesellen, in der einen Hand die Fidel, in der anderen den Schnaps, auf den Lippen die Verse, in denen sie der Welt ihre Wut entgegenschleudern: Wer aber, / rief der Arbeitsdirektor, / auf sich mit der rechten Hand weisend, / weit über den Platz, / Wer von euch wirft den ersten … / Im Prasseln des Steinhagels / war weiteres / nicht zu verstehen (Franz-Josef Degenhardt: Im Jahr der Schweine, Hamburg 1970) Flick ist der personifizierte Widerstand. In ihm weben die Weber auf immer weiter: … Wir weben emsig Tag und Nacht – / Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch … (Heinrich Heine: die schlesischen Weber, 1844), in ihm haben die Opelianer schon vor der Krise rebelliert. Volker Braun platziert seinen Meister Flick strategisch klug an die Schaltstellen der real existierenden Marktwirtschaft. Dort lässt er ihn agieren: derart kompromisslos, auf seiner ureignen Logik beharrend, wie es nur einer literarischen Gestalt dieses Formats erlaubt ist. Es ist grotesk. Aber was ist grotesk? Nicht der Text, nein, sondern die Welt, aus der er entstanden ist.

  • Volker Braun:
    Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 2008
    ISBN 3-518-42027-0

(5)

Papa Joseph

Kommen Sie mir nicht mit Joseph, werden Sie jetzt denken. Es ist Mitte Februar, die Krippenfiguren längst verstaut. Außerdem nimmt der Mann im hölzernen Weihnachtsensemble eine eher dekorative Rolle ein. Blättern Sie doch nur einmal kurz durch die Darstellungen der Heiligen Familie: Joseph? Dass ich nicht lache. Den Mann müssen Sie mit der Lupe suchen – wenn er überhaupt für abbildungswürdig gehalten wird. Im buchstäblichen Schatten Marias steht er ohnehin fast immer. Rembrandt lässt ihn (Die heilige Familie mit Engeln, 1645) im Hintergrund an einem Holzstück werkeln: Es könnte ein Joch sein (wahrscheinlich das eigene, selbst auferlegte). In der Regel darf Joseph nur zuschauen, wie Maria sich innig über den Sohn beugt. Ihn hat sie im Auge – nie ihren Mann. Wenns hoch kommt, billigen ihm die Maler eine schützende Geste zu. Dalí greift mit Die heilige Bibel (1964-1967) auf diese ikonografische Variante zurück, wenngleich Joseph im Ganzen als arg düstere Gestalt daherkommt, der auch der Heiligenschein kein Strahlen verleiht. Und überhaupt: Wenn Sie über Joseph schreiben wollen, können Sie auch gleich mit Adam und Eva anfangen. Die waren schließlich die ersten. – Volltreffer! Jutta Richter zum Beispiel, mehrfache Jugendliteraturpreisträgerin, konzentriert sich in Der Anfang von allem auf eben jene Figur. Sie lotet den gärtnernden Adam gewissermaßen neu aus, um ihrem jungen Publikum eine Interpretation anzubieten, die Adam nicht aus der Verantwortung für sein Denken und Handeln entlässt. Wie ich dort saß mit dem gesenkten Kopf und es nicht wagte, Nein zu sagen. Und mir den Apfel reichen ließ und aß, obwohl ich wusste, dass es das Ende meiner Freundschaft mit dem Herrn bedeutete. Die Schuldfrage ist nachrangig, das Begehren an sich nicht sträflich, sondern das mangelnde Bekenntnis zur Tat: Du wirst noch heute diesen Ort verlassen. Nicht wegen eines Apfels, das wäre klein und billig. Du gehst, weil du dich fürchtest <…>. Ingo Schulze hingegen verlegt die Schöpfungsgeschichte in seinem letzten Roman Adam und Evelyn kurzerhand (wahrscheinlich eher von langer Hand vorbereitet) ins Jahr 1989. In diesem Text, in dem wirklich jedes Früchtchen symbolisch aufgeladen ist, agiert Adam als fotografierender und fremd gehender Damenschneider, der sich nach Ungarn aufmacht, seine Geliebte (und das Paradies) zurückzuerobern. Doch hinter welcher Grenze liegt das Paradies? 1989 scheint sich diese Frage neu zu stellen – aber eigentlich ist es eine uralte Frage im neuen Gewand. Die biblische Konstellation bietet sich als Folie geradezu an. Von welchen kulturellen Vorbildern sollten wir ausgehen, wenn nicht von unseren? Das ist legitim, nicht altbacken. Entscheidend sind die Neu- und Umdeutungen, die die Schriftsteller vornehmen, entscheidend ist der epistemologische, aber natürlich vor allem der ästhetische Zugewinn. Auf den komme ich gleich im Hinblick auf Jon Fosse und seine Josephfigur. Ob Sie wollen oder nicht: Biblische Sujets sind in der Literatur im Kommen. Das lässt sich nicht einfach ignorieren. Ich prophezeie Ihnen: Was im Herbst seinen Anfang genommen hat, wird sich in diesem Jahr fortsetzen – ein Verlag winkt schon in seinem Frühjahrsprospekt mit einem Vers aus dem Matthäus-Evangelium. Das kulminiert in einem Trend: die Wiederentdeckung und -belebung des ersten und letzten biblischen Paares. Die wiederum steht mit einer heftiger werdenden gesellschaftlichen Suchbewegung in Zusammenhang (Sie wissen, mich überzeugt Bourdieus Analyse der Struktur des literarischen Feldes), einer Suchbewegung, die der Familie und den innerfamiliären Positionen gilt. Mit Blick auf Joseph gilt sie vor allem den Vätern, den neuen Vätern. Solch ein unverbrauchter Vatertypus lässt sich gut auf der Folie einer kulturell bislang vernachlässigten Gestalt entwickeln. DIE ZEIT frohlockte zur Weihnachtszeit (immerhin auf der Titelseite): Es stimmt, Josephs Rolle bleibt irdisch; aber das heißt auch: Er ist unser Mann, der Vertreter der erlösungsbedürftigen Menschheit. Wer mit diesem Gedanken die nur 70 Seiten starke Erzählung Schlaflos des Norwegers Jon Fosse liest, wird selbst eine schlaflose Nacht haben. Jon Fosse schickt ein junges, unverheiratetes Paar in einer norwegischen Küstenstadt in die herbstliche Kälte und Nässe: Asle und Alida heißen sie, und jetzt waren sie mehrere Stunden lang in den Straßen Bjørgvins umhergegangen und hatten ein Obdach gesucht, aber es schien unmöglich, irgendwo etwas zu finden, nein, sagten alle <…>, nein, lässt Jon Fosse die Gefragten immer wieder sagen, lässt den Graben der Ablehnung, der sich dem Pärchen gegenüber aufspannt, Satz um Satz tiefer werden, und warum wollte sie bloß niemand aufnehmen, war es vielleicht, weil alle sehen konnten, dass Alida bald gebären sollte <…>. Es ist erstaunlich: Allein die nackte Information, dass ein junges Paar – sie hochschwanger – Obdach suchend durch die Welt irrt, reicht aus, um das Bild von Maria und Joseph aufzurufen. Unser kulturelles Gedächtnis funktioniert wie ein Kinderspiel: Sie sagen Punkt, Punkt, Komma, Strich, schon komplettiert sich das Gesicht. Im Fall Jon Fosses die Gesichter von Maria und Joseph – unterwegs von Nazareth nach Bethlehem, auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. (Lukas II, 3,6) Jon Fosse operiert in seiner Erzählung nicht nur auf der inhaltlichen Ebene mit biblischen Versatzstücken, er intoniert einen geradezu lithurgischen Gesang: Der Text lebt von Redundanzen, die beim Lesen den Impuls auslösen, einfallen zu wollen in diesen klagenden Sprechgesang über die Odyssee eines Paares, das schon von zu Hause hatte fliehen müssen. Und wir wissen nicht wohin mit uns, sagt sie / und dann setzt sie sich auf die Bank an der Wand vom Bootshaus, die Vater Sigvald gebaut hatte / Ich hätte ihn totschlagen sollen, sagt Asle / Sag nicht so was, sagt Alida und dann geht Asle hin und setzt sich neben Alida auf die Bank / Ich schlag ihn tot, sagt Asle / Nein nein, sagt Alida. Viel deutlicher wird Jon Fosse nicht. Auch wenn es einige Rezensenten kaum zu glauben wagen: die Indizien sind eindeutig. Diese jungen Leute sind Opfer und Täter. Sie sind auf der Flucht. Sie suchen ein Obdach – und sie sind bereit, alles (wirklich alles) dafür zu tun. Wenn Maria und Joseph und mit ihnen (die das Urpaar bilden) die Heimatlosen und Vertriebenen dieser Welt heilsgeschichtlich auf der Seite des Guten stehen, so konterkariert Jon Fosse genau diese Lesart. Aber er negiert oder relativiert sie nicht einfach. Er lässt Alida und Asle gewissermaßen in einem Zustand der Gnade agieren, ein Status, der den Sündenfall zwar ein-, aber die Schuldfrage ausschließt. Moralische Einwände und strafrechtliche Kategorien laufen ins Leere. Genau diesen Zustand inszeniert Jon Fosse. Jetzt sind nur noch wir da, sagt Alida / Du und ich, sagt Asle / Und der kleine Sigvald, sagt Alida.

Ursprünglich erschienen: Globkult 19.02.2009

  • Jon Fosse:
    Schlaflos. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008
    ISBN 3- 498-02124-5
  • Ingo Schulze:
    Adam und Evelyn
    Berlin Verlag, Berlin 2008
    ISBN 3-8270-0810-7
  • Jutta Richter:
    Der Anfang von allem
    Carl Hanser Verlag, München 2008
    ISBN 3-446-23096-5

(4)

In der Falle

Wenn eine Fliege mir lästig wird, greife ich zur Zeitung und erschlage sie. So war es jedenfalls, bis ich den Essay des Schweden Fredrik Sjöberg (übersetzt von Paul Berf) las. Nun sitze ich in der (Fliegen-)Falle. Ich weiß zu viel, um künftig mit leichter Hand einem solch grazilen Wesen den Garaus zu machen – es könnte sich um einen Glasflügler (Sessiidae) handeln oder um eine Schwebfliege (Episyrphus balteatus). Es könnte sich auch – und nun halten Sie sich fest – um einen Glasflügler handeln, der lediglich aussieht wie eine Schwebfliege oder um eine Schwebfliege, deren Attribute sie auf den ersten Blick als Glasflügler ausweisen. Wie konnte es geschehen, dass ich mich dafür noch nie interessiert habe? Manchmal sehen sie nicht einmal aus wie Fliegen. Einige sehen aus wie Wespen, andere wie Honigbienen, Bremsen oder superdünne Mücken mit zarten Beinchen. Fliegen sind Meister der Mimikry. Gut, das Spielchen mit Verkleidungen und Maskeraden ist uns aus anderen Zusammenhängen vertraut. Schon weitet sich der Text zur Parabel – wir hören etwas über Schwebfliegen und erkennen uns selbst. Das erklärt aber nicht, dass ich mir bei der Lektüre ernsthaft die Frage gestellt habe, wie es kommen konnte, dass ich mir noch nie Gedanken über die Vorzüge amerikanischer Fliegenfallen und tschechischer Insektennadeln gemacht habe. Letztere gefertigt aus schwarz lackiertem Stahl, lieferbar in immerhin sieben Stärken! Das wussten Sie nicht? Die dickste ist so steif wie ein Nagel, während die dünnste launisch und beugbar ist wie ein französisches Verb. Es ist natürlich nicht die bloße Addition akribisch angehäuften Detailwissens, das die Qualität des Essays ausmacht. Es liefe bestenfalls auf Effekthascherei hinaus: auf ein Kabinett voller Absurditäten, das man mit einem Lachen quittiert – kurzlebiger als jede Eintagsfliege. Es ist natürlich auch nicht nur das trotzige Bekenntnis zu einer verschrobenen Leidenschaft oder die Koketterie, die Sjöberg beim Werben um die Gunst der Leser gezielt in die Waagschale wirft, wenn er sich als verschrobenen Fliegenforscher zu erkennen gibt, der auf einer schwedischen Schäreninsel in prallster Mittagsonne am Wegesrain steht, um den Katalog der bislang entdeckten 202 Schwebfliegenarten zu komplettieren: Kein halbwegs vernünftiger Mensch interessiert sich für Fliegen, zumindest keine Frauen. Aber ich, möchte ich ihm zurufen, ich interessiere mich. Und ich bin eine Frau. Also: Woran liegt’s? An einer ausgefeilten Ästhetik der Beschreibung. An der Präzision der Beschreibung, die den Weg von der denotierten auf die konnotierten Ebenen bedingt und befördert: Je exakter von Flügeln und Beinchen, von Terraineroberung und Paarungsverhalten erzählt wird, desto mehr wird das sanfte Gleiten von der Welt der Fliegen in andere Welten befördert. Es klingt paradox, aber die Detailversessenheit verengt nicht den Blick, sondern öffnet ihn. Zudem produziert Fredrik Sjöberg Bilder. Ich meine nicht in erster Linie originelle Vergleiche oder Metaphern, sondern Bilder wie dieses: Es kommt zuweilen vor, dass ich meinen angespannten Fliegenblick ausruhen und für eine Weile die Wolken oder gar nichts betrachten muss, rücklings im Gras oder auf den bemoosten Felsplatten liegend. Während eines solchen sommerlichen Dösens das intensive und ganz eigene Geräusch einer rasch vorbeifliegenden Narzissenschwebfliege zu erkennen, ist aus dem einfachen Grund angenehm, dass Wissen erfreut. Mag man im Gras liegend auch noch nie bewusst dieses unverwechselbare Fluggeräusch wahrgenommen haben – im Gras hat jede/r von uns schon einmal gelegen, die Augen himmelwärts gerichtet, die Wolken betrachtend, die Wärme der Sonne auf der Haut spürend. Anders formuliert: Der Abseitigkeit der Fliegenforschung zum Trotz haben die Bilder, die beschrieben respektive evoziert werden, hohen Wiedererkennungswert. Eigentlich ist das Prinzip ganz simpel: Das Besondere führt zum Allgemeinem und lädt ein, die eigenen Gedanken fliegen zu lassen. Wobei ich bei einem weiteren Aspekt bin: bei der Doppeldeutigkeit des Begriffs. Sie ist nicht zu unterschätzen. Das Substantiv Fliegen (Brachycera) steht für die weltweit verbreitete Unter-Ordnung der Zweiflügler, ein bis über 50 mm lang, mit großen, zuweilen gestielten Augen ausgestattet. Darunter Arten wie Tanzfliegen, Schwebfliegen oder Schmuckfliegen, deren Namen nichts als schwebende Anmut verheißen und von dem gemeinsamen Ursprung mit dem Verb fliegen (aus mhd. vliegen, ahd. fliogan) künden, das seinerseits die konnotierte luftige Leichtigkeit der lähmenden Erdenschwere entgegensetzt. Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus. Doch es existieren auch Raubfliegen, Fleischfliegen und Schmeißfliegen. Fliegen, die Parasiten und Krankheiten übertragen. Fliegen als Indizien für den äußeren und inneren Zustand der Nachkriegszeit: Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. Große, grünschillernde, wie man sie nie gesehen hatte, schreibt Hans Erich Nossak. Fliegen, deren schädigendes Potential sich in William Goldings Lord of the Flies (1954) spiegelt, wenn der Junge Simon im aufgespießten fliegenumsurrten Schweinekopf den teuflischen Herrn der Fliegen imaginiert – What are you doing out here all alone? Aren’t you afraid of me? – und somit den Schulterschluss vollzieht zum Beelzebub, dem obersten der Teufel (Lukas 11,15). Im Dictionnaire Infernal (1863) wird dieser Fliegenbaal in Gestalt eines Hautflüglers dargestellt, dessen Flügel Totenköpfe zieren. Die Bandbreite kulturell geprägter (Fliegen-)Bilder ist also extrem – doch Fredrik Sjöberg hat eine klare Entscheidung getroffen: Er schreibt sich nicht in das antagonistische Spektrum ein, sondern stärkt mit seinen Bildern den Pol der positiven Konnotationen. Der schillerndste Satz seines Essays kommt in Gestalt eines Paradoxons einher und hat eine Vorgeschichte. Eumerus grandis hießt eine Fliege, die hier und dort in Europa gesichtet wurde, deren Wirtspflanze aber bis zu dem Tag unbekannt war, als Fredrik Sjöberg wieder einmal absichtlos/absichtsvoll im Gras saß und ein Weibchen beobachtete, das sich an der Basis eines vertrockneten breitblättrigen Laserkrauts verdächtig verhielt. Die Fliege flitzte gleichsam in Kreisen über die Erde, ungefähr wie eine Henne, die dringend ein Ei legen will. Eine halbe Stunde war sie so beschäftigt, bis sie weiterflog, woraufhin ich die Blätter, auf denen sie gelaufen war, mit der Lupe musterte – und Eier fand, die so klein waren, dass es die Hälfte gar nicht gab.

Ursprünglich erschienen: Globkult 26.11.2008

  • Fredrik Sjöberg:
    Die Fliegenfalle – Über das Glück der Versenkung in seltsame Passionen, die Seele des Sammlers, Fliegen und das Leben mit der Natur
    Aus dem Schwedischen von Paul Berf
    Eichborn Berlin 2008
    ISBN 3-8218-5816-6

(3)

Am Haken

Der Debütant ist Mitte fünfzig. Das ließ schon vor der Lektüre hoffen, dass hier keiner der Jungautoren am Werke ist, die beharrlich im Fahrwasser Michel Houellebecqs rudern (immer noch!) – obwohl er selbst längst auf dem Trocknen sitzt (nicht nur die Epigonen). Diese Metapher könnte ein wenig bemüht wirken (sei’s drum), wenn ich Ihnen sage, welche Frage mich (wieder einmal sonst kaum jemanden) an Lars Brandts Romandebüt Gold und Silber nachhaltig beschäftigt hat: Was hat es mit der Affinität des Helden fürs Angeln auf sich? Zunächst: Lars Brandt ist wie vermutet kein Autor, der den schnoddrigen Alltagston schätzt, vielmehr schildert er den desolaten Lebens- und vor allem Liebeszustand seines Helden in recht ausgefeilter, eigenwilliger Prosa. Der Mann ist Mitte dreißig und steckt tief in Schaffens- und weiteren Krisen. Dort im Verlies saß der, der die Bilder gemacht hatte. Ich. Unerreichbar. Der Ich-Erzähler, ein Künstler, weiß also nicht vor und nicht zurück – weder beruflich noch privat. Er hängt gewissermaßen in der Luft. Und diesen Zustand, ein gewisses Nicht-in-und-nicht-aus-der-Welt-Sein setzt Lars Brandt in Szene. Es ist alles möglich, aber nichts geschieht – für dieses Bleierne und zugleich Leichte, das Rudi und seine Künstlerclique gebannt hält, findet Lars Brandt durchaus adäquate Worte und Bilder. Was aber noch nicht die Sache mit dem Angeln erklärt. Warum nicht hin und wieder die fünfzig Meter zum Ufer hinabgehen und rasch ein paar Fische jagen? Nun müssen Sie noch wissen, dass Lars Brandt seinen Helden in eine gewaltige Kulisse stellt. Schon auf Seite eins erfahren wir, dass der Protagonist gefangen ist in der Faszination für eine Frau: Ginger heißt sie. Eigentlich Ginevra. Meiner Meinung nach jedenfalls, oder meinem Gefühl zufolge. Wir haben verstanden. Ginevra. Gennevar, Gueniève, Gwenhwyvar – allein die Namen dieser Dame gleichen phonetischen Lockrufen. Ginger klingt da schon etwas nüchterner – aber der Name des Protagonisten auch: Er heißt Rudi. Was es mit unseren Namen letztlich auf sich hat, bekam ich nie heraus. Sind sie einfach Wörter, die an uns kleben und die wir dann zwangsläufig mit uns herumtragen? Aber was bewirkt das: Rudi-? Rudi jedenfalls agiert als Lancelot. (Ich glaube, Lancelot hat nicht geangelt.) Diese Loriot reife Namenskombination zeugt erstens von der Ironie des Autors (die übrigens hilft, darüber hinwegzulesen, dass dem Text ein paar Striche mehr und ein paar Redundanzen weniger gut getan hätten) und zeigt zweitens, dass eine gewisse, sagen wir, Schieflage zu verzeichnen sein muss zwischen der mythischen Vorlage (bzw. den Vorlagen, es gibt zahlreiche Varianten) und diesem Roman, der ihr/ihnen folgt. In diesen poetologischen Graben setzt Lars Brandt seinen Rudi. Der liebt zunächst tapfer entschlossen vor sich hin und kann nicht anders, schließlich ist Lancelots Liebe Schicksal, also nicht beeinflussbar: Die Vorsehung hatte bestimmt, daß Ginevra und ich uns nicht fremd bleiben durften. Ginevra allerdings reagiert nicht vorlagegemäß, sondern zeigt sich eher genervt, denn innerviert: Was willst du, Rudi? Und dann das Ende: Rudi entkommt der Liebe! Rudi streift Lancelot ab wie einen alten Mantel – menschlich verständlich, ästhetisch allerdings ernüchternd. Denn nun muss Rudi ratlos allein bestehen in dieser Welt. Eine einsame literarische Figur, entlassen aus dem mythischen Schoß, einer, der sich nun um die Entwicklung des Eigenen, Individuellen kümmert (und plötzlich doch nahe an Houellebecqs Programmatik gerückt ist). Schade. Und erst jetzt, auf Seite 301, nachdem er längst den Angelschein gemacht und immer wieder übers Angeln schwadroniert, vom Angeln geträumt hat, greift Rudi zur Rute. Und was benutzt er als Köder? Ich spickte den Haken mit Stilton und warf die Angel so weit aus, wie es ging. Stilton ist ein englischer Blauschimmelkäse! Sie werden gleich verstehen. Zunächst hatte Lars Brandt folgende Fährte gelegt, um Rudis Neigung zu erklären: Der Waldteich vor uns strotzte vor Leben…. Soviel Lebendigkeit. Damit bekommt man es zu tun, wenn man angelt. Wasser ist Leben ist Lebendigkeit, der Akt des Angelns gewährt Zugriff, gar Teilhaftigkeit an dieser Lebendigkeit. Diese Assoziationskette (immer wieder erstaunlich, wie blitzschnell unser kulturell gesteuerter Motor anspringt) hätte Lars Brandt also gern? Ein bisschen Fliegenfischen-Atmosphäre, springende Lachse oder schillernde Forellenleiber? Ein Held, der hüfttief durchs strudelige Wasser watet wie Brad Pitt in Aus der Mitte entspringt ein Fluß und seinen Hut in den Nacken schiebt? Oder ein bisschen mehr den Macho gibt à la Wladimir Putin, der auf einem Foto aus dem Jahr 2007 (das die Zeitungen nicht müde werden, wieder und wieder abzudrucken) in grüner Drillichhose posiert, mit bloßem Oberkörper, die Angel wie eine Kalaschnikow im Anschlag? Um es vorsichtig auszudrücken: Unser doch eher die Passivität kultivierender Rudi passt nicht ganz ins Schema. Die Fährte führt in die Aporie – und außerdem gibt Rudi nun preis, dass er auf Barben, Aale oder Zander, vielleicht auch Forellen gehen könne, es aber eigentlich auf eine sehr spezielle Fischart abgesehen habe: auf Welse. Rastlos spüren seine langen Barteln tastend durch den Schlamm seines Reviers, nichts ist vor ihm sicher. Der Wels: Silurus glanis, bis zu drei Meter lang (oder noch länger), er bevorzugt ein Jagdrevier auf dem schlammigen Grund von Flüssen und Seen. Ein einzelgängerisches Geschöpf, das gern im Trüben fischt. Als Ausbund an Lebendigkeit würde man ihn nicht bezeichnen. Allerdings wird ihm eine dunkle Seite nachgesagt: Der Wels ist ein märchenhafter Fisch, der badende Kinder zu sich in die Tiefe zieht, um sie dort zu frühstücken. Auch die Japaner attestieren dem Namazu außergewöhnliche Fähigkeiten: Mit dem Schlag seiner Schwanzflosse könne er Erdbeben auslösen – als Strafe für die Lasterhaftigkeit der Menschen (schreibt Birgit Pelzer-Reith in Sex & Lachs & Kabeljau). Wie wäre es also mit folgender Variante: Die Tiefe des Wassers symbolisiert die Tiefe von Rudis Unbewusstem. In diesem unheimlichen Wesen (dem gar Kannibalismus nachgesagt wird), das auf dem schlammigen Urgrund sein Unwesen treibt, manifestieren sich die geheimsten sexuellen Phantasien des Protagonisten. Nein, unter solch psychoanalytischem Ballast geht Rudi in die Knie. Diese Abgründigkeit, diese Entscheidungskraft, dieser Tatendrang passen nicht zu ihm. Rudi wartet lieber. Ich wartete auf den Moment, vor Ginevra auf die Knie zu gehen: Hier, mein Leben. Und deshalb muss Rudi nun auch mit einem Blauschimmelkäse angeln, muss die Jagd nach diesen geheimnisvollen Welsen aufgeben. Morgens um drei mit einem dicken Bündel Tauwürmer. So macht man es, wenn man einen Wels fangen will. Hatte ihm ausgerechnet sein Widersacher Jarl/Artus geraten. Ach, hättest du es doch gewagt, Rudi. Hättest du doch die Tauwürmer genommen, nicht den Schimmelkäse. Ich hätte gern gewusst, was Lars Brandt aus dir gemacht hätte.

Ursprünglich erschienen: Globkult 15.09.2008

  • Lars Brandt:
    Gold und Silber
    Hanser Verlag, München 2008
    ISBN 3-446-23032-3
  • Birgit Pelzer-Reith:
    Sex & Lachs & Kabeljau – Das Buch vom Fisch
    Marebuchverlag, Hamburg 2005
    ISBN 3-936384-34-7

(2)

Aus der Hüfte

Der Frühling hat mich in Ingo Schulzes Arme getrieben. Die Folge ist, dass ich wieder einmal mit Vergnügen, ja bisweilen mit einem Seufzer der Achtung die Minutennovellen von István Örkény lese, obwohl dort kein Handy klingelt. Das klingt verwirrender als es ist. Also: der Frühling. Er hat mich ins Straßencafé gelockt. Während ich dort saß, defilierten etliche eilige Herren mit wehenden, nicht länger durch Wintermäntel verborgenen Jacketts an mir vorbei. Bei jedem Schritt enthüllte sich ein lederner Gürtel, an dessen Seite in einem passgenauen Etui ein Handy steckte. In Hüfthöhe. Eine Präsentation, die nur einen Schluss zulässt: Hier steckt keine Kommunikations-Hardware, sondern ein Colt. Der Träger ist gewissermaßen allzeit schussbereit. Mit Wehmut gedenke ich des selbstironischen Gestus und (ich geb’s ja zu) auch der Hüften der Italo-Western-Helden, die Sergio Leone so trefflich in Szene zu setzen wusste, greife zu Ingo Schulzes Handydreizehn geschichten in alter manier, denke einerseits an Schulzes Gabe für raffiniert Verflochtenes (siehe Simple Storys) und denke andererseits, dass Pierre Bourdieu eine solche, nun ja, annähernd marktschreierische Untermauerung seiner These (ich meine durch einen Titel wie Handy) nun auch nicht nötig hat: Der Künstler agiert nicht als erdenferner Solitär, sondern als im literarischen Feld positionierter Produzent, der durchaus von sozialen und ökonomischen Gegebenheiten beeinflusst ist. Das schließt gewiss einen Schuss Pragmatismus ein. Doch nun will ich endlich wissen, was er, also Ingo Schulze, mit diesem Accessoire anstellt, das er auf den Titel gehoben hat (oder war’s doch eher die Marketingabteilung des Verlags?) In der Auftaktgeschichte (Sie wissen schon, wie der Titel lautet) zieht sich ein junges Paar gern übers Wochenende auf’s Land zurück. Der Bungalow ist klein, die Kiefern sind hoch, die Ruhe groß – bis eines Nachts eine randalierende Horde ins Idyll einbricht. In dieser Situation fand ich es gut, ein Handy zu besitzen. Das Handy wird zum Symbol der Sicherheit. Wie einst der Colt. Sag’ ich doch. Zwischen uns Bungalowbewohnern hatte sich eine Art Wildwest-Solidarität entwickelt. Die Nachbarn schließen sich zu einer wehrhaften Gemeinschaft zusammen, jederzeit per Handy-Notruf einsatzbereit – bis das System, was aus dramaturgischer Sicht dringend nötig ist, sich selbst ad absurdum führt: Der nächste Überfall wird gewissermaßen live per Handy reportiert – »Hörn Sie mal, wie das kracht!« - »Jetzt sind sie am Briefkasten« –, doch da der Erzähler inzwischen wieder in Berlin weilt, kann er nichts ausrichten. Das heißt: Er ist informiert, hat aber keine Handlungsmöglichkeit. Er ist anwesend und abwesend zugleich. Ein Dilemma, lakonisch inszeniert: So etwas kann Ingo Schulze, das lieben die Juroren, die ihm zum Beispiel im vergangenen Herbst den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen haben. Sie loben die sich in den Alltagssituationen unvermittelt offenbarende existentielle Dimension. Die Rezensenten springen flugs auf den gleichen Zug, greifen darüber hinaus auf, was der Klappentext als Leitmotiv feilbietet: das scheinbar aus dem Nichts auftauchende Moment des Gefährlichen, des Unwägbaren, eine gewisse Unterminierung des Alltags (ja, durchaus gut gemacht, gewissermaßen Kontrapunkte zu den Augenblicken des Glücks) – suchen und finden die Textbeispiele (Schulze hat sich übrigens, nebenbei bemerkt, dieses symbolisch aufgeladenen Handys nach der ersten Geschichte entledigt, was für ihn spricht). Und schon läuft die Rezeptions-/Rezensionsmaschinerie und zieht einem Perpetuum mobile gleich ihre Endlosschleifen. Apropos Schleife: darauf komme ich noch. Es gibt einen anderen, meist unerwähnten Aspekt: den poetologischen. Die Variationen, in denen Schulze das Sich-Einverleiben und gleichsam Verdauen des Erlebten bzw. Gehörten und Gesehenen beschreibt, vor allem aber seine spielerische Weise, Intertextualität transparent zu machen bzw. sie im Schulterschluss mit den Kollegen – so geschehen in dem Band Eine, zwei, noch eine Geschichte/n von Kertész, Esterházy und Schulze – bewusst zu inszenieren, nähren mein Vergnügen an der Lektüre. Springen wir gleich von der Auftakt- in die Schlussgeschichte des Handy-Bandes, die zugleich den Übergang ins nächste Buch markiert: Ein zwischen Ich und Er wechselnder Erzähler fährt Zug, von Budapest nach Wien. Es ist der 25. April 2004. Petra (oder Katja) soll in Wien des Erzählers Manuskript Zwischenfall in Petersburg lesen (über einen Überfall, der sich getreu einer fiktionalen Vorgabe zugetragen haben soll), außerdem gibt es noch Privates zu klären. Jede Menge Grenzerfahrungen metaphorischer Art also und einen realen Checkpoint als Schlüsselstelle der drei aufeinander basierenden Erzählungen: Hegyeshalom, die Grenzstation. Hegyeshalom! Der Ort, der die Grenze zwischen Ungarn und Österreich markiert, die Grenze, die Ingo Schulzes Erzähler problemlos passiert – es gibt keine Zöllner  mehr –, während Imre Kertész Erzählung Protokoll (1991) ein anderes Erlebnis zu Grunde liegt: In eben jenem Kaff beschlagnahmt ein Beamter Geld und Ausweis des Erzählers/Kertész’ – In diesem Zöllner war keine Liebe –, verhört ihn und präsentiert ihm schließlich ein Protokoll. Es entwickelt sich eine Situation, in der sich sämtliche erlittenen Gewalterfahrungen verdichten: vor meinen Augen erschienen Gitterfenster und Stacheldrahtzäune. Die inneren Bilder katapultieren den Erzähler in einen Zustand der Starre. Zugleich setzt sich jäh die Erkenntnis eines immerwährenden Prinzips durch, das sich in diesem Zöllner personifiziert wie in allen Zöllnern der Welt: Alles, Alles, / Alles weiß ich, / Alles ward mir nun frei. / Auch deine Raben / hör ich rauschen. Die Verse aus Brünnhildes Monolog, zu denen der Erzähler, dieser Eindruck drängt sich auf, zunächst geradezu Zuflucht sucht (Götterdämmerung, 3. Akt, 3. Szene. Allein die Auswahl des Zitats, die Entscheidung für den sehr speziellen intertextuellen Verweis wirft Fragen auf, die diesen Rahmen sprengen. Unter dem Titel Der Fall Wagner gibt Imre Kertész in einem Hörbuch Antworten), diese Verse werden gegen Ende der Geschichte ein weiteres Mal zitiert und kommentiert: Ich habe die Fähigkeit zum Dulden verloren, ich bin nicht mehr verwundbar. Ich bin verloren. <…> Ich bin tot. Péter Esterházy nun, um das Trio zu komplettieren, inszeniert seine Variante der Zöllner-Episode in Leben und Literatur als Geschichte einer Rebellion gegen die Willkür eines Zöllners. Aufs Engste angelehnt an Kertesz’ Erzählung, gespickt mit Zitaten aus dem Protokoll und dennoch Eigenständigkeit behauptend, legt dieser Text seine Zeugenschaft offen für den unendlichen Prozess des Fort- und Weiterschreibens der Literatur, des Sich-Ein- und Überschreibens. Ein Palimpsest, dessen tiefere Schichten freigelegt sind. Und so gleicht das Resümee des Erzählers einem Ruf an Kertézs über die Zeiten und Zeilen hinweg: Ich bin nicht verloren, aber ich kann es im nächsten Augenblick sein. Doch noch einmal zurück zu Ingo Schulze. Er lässt seinen Zug fahrenden Erzähler István Örkénys Minutennovellen lesen. Die bin ich Ihnen ja ohnehin noch schuldig. Genau gesagt den Text Schleife: einen absurden Dialog über die Vorzüge und (charakterlichen) Nachteile einer jungen Frau. Die Männer kommen zu keinem Schluss, vielmehr verfangen sie sich in ihren Beteuerungen und Repliken. Die Gesprächsfäden verknüpfen sich schließlich zu einem Knäuel. Dichter und dichter, im buchstäblichen Sinn sich anreichernd, wird die Schleife zur Metapher der Literatur. Wie gezeigt: Derart lasse ich mich gerne einbinden.

Ursprünglich erschienen: Globkult 15.05.2008

  • Ingo Schulze: Handy – dreizehn geschichten in alter manier
    Berlin Verlag, Berlin 2007
    ISBN 3-8270-0720-9
  • Imre Kertész, Péter Esterházy, Ingo Schulze: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n
    Berlin Verlag, Berlin 2008
    ISBN 3-8270-0787-2 (Imre Kertész: Protokoll, übersetzt von Kristin Schwamm
    Péter Esterházy: Leben und Literatur, übersetzt von Hans Skirecki
    Ingo Schulze: Noch eine Geschichte)
  • István Örkény: Minutennovellen
    (Ausgewählt und übersetzt von Terézia Mora)
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002
    (Band 1358 der Bibliothek Suhrkamp)

(1)

Ohne Ohr

Mittelmäßiges Heimweh – das ist wahrlich kein Titel, der zum Lesen verführt. Gut, Heimweh wird immer gern genommen, das schon, aber wenn es keinen Grad an Wallung aufweist, der das Mittelmaß übersteigt, muss allein die ästhetische Umsetzung vor Langeweile bewahren. Der Autor muss einiges zu bieten haben. Hat er, Wilhelm Genazinos Schultern sind in dieser Hinsicht gut gepolstert. Er ist bekannt als Autor mit einem Hang zu eher glanzlosen, grüblerischen, larmoyanten Helden, die mit gewisser Wonne das eigene Scheitern betreiben. Zudem überlässt er die Geschichten gern einem süffisanten Erzähler – in der Ästhetik des bürgerlichen Scheiterns ist er also zu Hause. Dennoch: Mittelmäßiges Heimweh, er- und durchlebt von einem Mann im mittleren Alter, der eine mittlere Ehe- und Schaffenskrise durchmacht, der nicht weiß, ob die Last des Lebens sich nicht doch im Schwarzwald besser tragen ließe als in der Großstadt, und überhaupt: Was heißt die Last des Lebens, ist es nicht doch eher die Last mit den Frauen generell? Ach, wie er mit sich hadert und sich zugleich an sich selbst labt, das wäre – bei aller Leichtfüßigkeit in der Darbietung – doch ein bisschen viel Mittelmäßigkeit, wenn es nicht die eine Szene gäbe. Die Szene, von der einige sagen, sie sei eher ein Gag, vielleicht gar verzichtbar (ich denke eher, es verhält sich umgekehrt, der Roman ohne diese Szene…). Diese Szene, die mich gegen die Zyklen des Literaturmarktes, der bereits mit dem neuen Wurf befasst ist, zum zweiten Lesen gebracht hat, die der Schlüssel zum Roman ist, obwohl der Schlüssel nicht ins Schloss passt, jedenfalls nicht so, wie man fürs Erste annehmen könnte. Aber der Reihe nach. Momentan sitzt der Held in einer Kneipe, aus dem Fernseher brüllt der Kommentator des Fußballspiels, das übertragen wird, im Lokal brüllen die Leute, da passiert’s: Plötzlich sehe ich unter einem der vorderen Tische ein Ohr vor mir liegen. Es muß mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein. <…> Ich sehe mein Ohr am Boden liegen wie ein kleines helles Gebäck, das einem Kind in den Schmutz gefallen ist. Ich überlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll. Er lässt es liegen, und das ist auch gut so, denn nur auf diese Weise geht die ästhetische Rechnung auf. Der erste Impuls legt nahe, die Szene als Comic-Clip einzuordnen, der zweite folgt der wohlfeil ausgelegten psychologischen Fährte des lärmsensiblen, hoch empfindsamen Protagonisten, nachdem einem nun mal sprichwörtlich die Ohren abfallen können bei dem Krach, der in der Welt herrscht. Der dritte Impuls geht einer symbolischen Spur nach und sieht im Ohrverlust einen Verweis auf die Verluste, die Herr Rotmund (so heißt der Held, ich vergaß es zu erwähnen) derzeit zu tragen hat: aber nein, nichts ist stimmig. Diese Art des Verlustes eines Sinnesorgans (hören kann Herr Rotmund übrigens auch später noch, was anatomisch gesehen konsequent ist, schließlich verliert er ja nur die Ohrmuschel), dieses unspektakuläre Abfallen des Hörorgans ist ein surrealer Akt, besser noch: ein unblutiger, sauberer Cut, der kein zerfetztes, zerrissenes Körperteil hinterlässt, sondern ein Ding, das die Form dessen hat, was wir gemeinhin Ohr nennen. Tatsächlich besteht zwischen dem Ohr und mir jetzt schon eine riesige Distanz. Herr Rotmund, so muss es sein, es geht nicht um Sie und Ihr Verhältnis zum Ohr, sondern um das Bild, das Sie selbst evozieren: Wieder und wieder fällt mir das Bild meines im Bodenschmutz eines elenden Lokals liegenden Ohres ein. <…> Jemand wird das Ohr mit Besen und Schaufel aufgekehrt haben, danach wird es in einem Ascheimer verschwunden sein. Das ist es: keine Erschütterung, sondern eher ein leises Erstaunen angesichts des Objekts, eine gewisse Gelassenheit, die auch die Dame im Andalusischen Hund des Duos Buñuel/Dalí ausstrahlt, wenn sie versonnen mit einem Stock die abgetrennte Hand auf der Straße umherstößt. Das sind die Korrespondenzszenen: die Bilder der Surrealisten, die ihr Spiel mit den abgetrennten Körperteilen treiben, deren Symbolik sich nicht aus den gängigen Deutungsmustern ableiten lässt, sondern ihren originären Part innerhalb der je eigenen Bildsprache spielt. Es ist die sauber abgetrennte Gipshand Alberto Giacomettis, die sich ausgesprochen dekorativ auf dem Table macht, es ist die bunte Ohrmuschel, die Joan Miró in seinem Bild Carnaval d’Arlequin an eine Leiter heftet. Auf der Romanebene gibt es zwei weitere korrespondierende Szenen: Zunächst fällt Herrn Rotmund noch ein Zeh ab (im Schwimmbad, über den Verbleib des Zehs wird nichts gesagt) und gegen Ende des Romans beobachtet er, wie ein Kind ein Körperteil verliert: Im Sandkasten hat ein Kind plötzlich einen Daumen verloren. Die Mutter wird von Entsetzen geschüttelt, das Kind bleibt gelassen, der Kinderdaumen liegt im Sandkasten, bis ihn die Sanitäter auflesen. Wahrscheinlich war der Lärm des Baggers für das Kind zuviel. Herr Rotmund, das ist unlogisch, das Kind verliert einen Daumen (!), außerdem hatten wir das schon, es handelt sich nicht um ein Seltsamkeitszeichen, das sie und das Kind eint, es ist überhaupt kein Zeichen in diesem Sinn: Das ist doch alles zu banal. Vielmehr wird das surreale Bild um ein weiteres Körperteil angereichert. Stellen Sie sich einmal vor: der Kinderdaumen neben dem Zeh neben dem Ohr neben der Schaufel neben dem Eimer neben dem Kehrblech neben den blauen Fliesen des Schwimmbads. Achten Sie auf Ihre Lippen, Herr Rotmund.

Ursprünglich erschienen: Globkult 10.03.2008

  • Wilhelm Genazino
    Mittelmäßiges Heimweh
    Carl Hanser Verlag, München 2007
    ISBN 3-446-20818-6